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Von der Zarenoper zum Kasperltheater

Das berühmte Michailowski-Theater in Sankt Petersburg feiert diese Saison seinen 175-jährigen Geburtstag. Im Sommer 2007 wurde das Opernhaus aufwendig renoviert. Das notwendige Geld dafür zahlte der Geschäftsmann Wladimir Kechman, der als Gegenleistung zum Generaldirektor des Traditionshauses ernannt wurde. Seitdem folgt Skandal auf Skandal: Von Firmenpartys im Opernsaal, betrunkenen Angestellten und indiskutablen Inszenierungen wird gemunkelt.

Von Tatjana Montik | 11.12.2008
    Seit vielen Jahren hatte Regisseur Alexander Sokurow einen Traum: Die wenig bekannte Oper "Orestea" des russischen Komponisten Sergej Tanejew aufzuführen. Fast hätte er diesen Traum auf der Bühne des Michailowski-Theaters verwirklicht:

    "Diese Oper ist in Russland nie aufgeführt worden. Ich habe für sie die besten Künstler und Bühnenbildner gewonnen, die ich seit meiner Arbeit am Bolschoj-Theater kenne. Aber dann habe ich einen Protestbrief unterzeichnet - für den Schutz des historischen Sankt Petersburg. Der Generaldirektor Wladimir Kechman wollte, dass ich meine Unterschrift zurückziehe. Er sagte, er sei der Bürgermeisterin zur Loyalität verpflichtet. Als ich mich weigerte, wurde unsere Aufführung abgesagt."

    Es ist nicht nur das Schicksal seines eigenen Projektes, das Alexander Sokurow Sorgen macht - sondern die Situation des Michailowski-Theaters insgesamt. Und damit ist er nicht allein. Das Niveau des Hauses sinke immer weiter, bestätigt der Musikkritiker Kirill Schewtschenko:

    "Mit dem Chor arbeitet im Michailowski-Theater heute niemand. Es gibt kaum noch Proben. Und der Chorleiter ist dadurch bekannt, dass er regelmäßig in den sogenannten "künstlerischen Urlaub" geht und erst nach drei, vier Tagen nüchtern zurückkehrt. Auch das Orchester wird überwiegend sich selbst überlassen. Der aus Italien eingeladene Dirigent Daniele Rustioni ist 25 Jahre alt und bräuchte eigentlich selber noch eine ordentliche Schulung."

    Nach Ansicht vieler Sankt Petersburger Theaterkenner ist das Hauptproblem des Michailowski-Theaters sein neuer Generaldirektor, der ehemalige Geschäftsmann Wladimir Kechman, der sein Vermögen im Obsthandel gemacht hat. Seine Eintrittskarte in die Petersburger Kunst-Szene erkaufte er sich mit der Renovierung des Theaters, die stolze 15 Millionen Euro gekostet haben soll. Die Bürgermeisterin der Stadt, Walentina Matwijenko, machte ihn deshalb nicht nur zum Theaterdirektor, sondern sogar zu ihrem Kulturberater. Man munkelt, die beiden seien auch durch andere Geschäfte verbunden - durch den Öl- und Immobilienhandel.

    Als Wladimir Kechman im Mai 2007 seinen Posten übernahm, freuten sich die Mitglieder der Theatertruppe zunächst, erinnert sich Andrej Anichanow, der damals noch Chefdirigent des Michailowski-Theaters war:

    "Wir waren alle euphorisch, als wir sahen, wie schnell und effizient unser Theater renoviert wurde. Alle Künstler haben mitgearbeitet. Ich selbst habe meinen Taktstock zur Seite gelegt und im Orchestergraben mitgeholfen, als die Akustik des Hauses von dem berühmten Yasuhisa Toyota auf den neuesten Stand gebracht wurde."

    Aber Kechman wollte nicht nur das Gebäude des Theaters erneuern, sondern auch das Repertoire. Premieren wurden über Nacht abgesagt und andere Stücke neu ins Programm genommen, ohne den künstlerischen Leiter darüber zu informieren. Andrej Anichanow.

    "Der Theaterdirektor findet es normal, dem Orchester Anweisungen zu erteilen, ob es etwa lauter oder leiser spielen soll. Einmal, als ich das Ballett "Schwanensee" dirigierte, bekam ich in der Pause einen Anruf von ihm: "Warum wirkt bei Ihnen heute alles so traurig? Ich glaube, Sie sollten sich zur Aufmunterung etwas Cognac einschenken"."

    Im theatereigenen Museum lässt sich der neue Direktor bereits selbst loben. Und das, obwohl er schon mehrere herausragenden Künstler aus dem kleinen Opernhaus vertrieben hat. Darunter auch den Chefdirigenten Andrej Anichanow und die Sopranistin Elena Obraszowa. Die beiden Künstler konnten nicht zusehen, wie das einstige Theater des Zaren für Firmenpartys diverser Banken und für die Konzerte verschiedener Popstars vermietet wurde.

    Die jüngste, groß angekündigte Premiere des "Bajazzo" fanden viele Kritiker einfach nur noch peinlich. Kirill Schewtschenko:

    "Die Inszenierung war weder Fisch noch Fleisch: Man konnte keine Regie-Arbeit und keine Personenführung erkennen. Der Bariton hatte eine gealterte Stimme. Und der Tenor war eine einzige Katastrophe! Man hörte ihn kaum, er hatte Atemnot und musste nach jedem Wort tief Luft holen. Und nach dem berühmten Stück "Lache, Bajazzo!", wenn der Saal normalerweise in Applaus übergeht, blieb das Publikum still."

    In der Stadt geht das Gerücht um, dass die Niveaulosigkeit sogar Methode haben könnte: Es wird behauptet, das Theater solle an Ruf verlieren, damit es der Direktor schließlich heimlich still und leise privatisieren und ganz in sein Eigentum überführen kann.