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Von Dreizeilern und Frünfzeilern

"Ein Land, das die Morgensonne voll trifft, das die Abendsonne überstrahlt. Dies ist ein trefflicher Platz." - "In jenem Lande gab es jedoch viele Gottheiten, die wie Leuchtkäfer glänzten, sowie böse Götter, die summten wie Fliegen. Zudem konnten alle Kräuter und Bäume sprechen."

Von Krischan Schroth |
    Von Japan ist hier in einem alten Shintô-Text die Rede. Der Shintô, Japans Urreligion, ist ein Gemisch aus Natur- und Ahnenkult, in dem Tiere, Götter, Pflanzen und Mineralien, die Welt der Lebenden und der Abgeschiedenen ineinander übergehen. Vom Shintô leitet sich ein starker Naturbezug der Japaner her, der sich auch in der Literatur niederschlug, nicht zuletzt im Haiku. In den Dreizeilern, bestehend aus fünf, sieben und nochmals fünf Silben, steht die Natur meist im Zentrum. Dem trägt die bei Reclam Stuttgart erschienene Anthologie mit fast tausend Haiku von 181 Verfassern Rechnung - ist sie doch nach den vier Jahreszeiten geordnet. Hier werden uns die Zyklen der Natur vorgestellt wie ein Buch, in dem man lesen kann. Vorausgesetzt man ist dazu imstande. Und hier kommt die zweite Säule des Haiku hinzu, der Zen-Buddhismus. Denn wie lässt sich die Welt, die Natur mit Klarheit sehen? Nur wenn wir in der Lage sind uns selbst zu vergessen bzw. alles Wollen und Begehren abzulegen, erkennen wir die Wirklichkeit. Dem Okzident ist solch ein Denken durch Mystiker wie Eckhart nicht fremd. Für die Dichtung bedeutet das, dass Gefühlsworte, etwa schön oder traurig, fehl am Platz sind. Die hohe Kunst der Beschreibung eines Vorganges ohne emotionale Einmischung des Autors, beherrschten wenige wie der Dichter und Landschaftsmaler Taniguchi Buson. Er vermochte es virtuos sich nur über die beobachteten Objekte auszudrücken, wie das folgende Haiku verdeutlicht:

    " Vom Pflaumenbaume
    Da steigt ein Blütenduft auf
    Zum Hof des Mondes."

    Auf traumwandlerische Art sind hier Erde, Kosmos und Zeit verbunden worden, letztere durch den sich wandelnden Mond repräsentiert. Kein Gefühlswort durchkreuzt die Stimmung. Einzig der sich zum Mond schwingende Blütenduft durchbricht den Realismus. Eine noch entschiedenere Objektivität zeigt ein anderes Gedicht von Buson, der 1715 unweit von Ôsaka geboren und 1783 in der Kaiserstadt Kyôto beerdigt wurde:

    " Der Abendwind schlägt
    Das Wasser an das Bein leis
    Dem grauen Reiher. "

    Das interpretierende Ich des Dichters ist hier radikal zurückgedrängt - zugunsten des Objekts. Darum ging es dem im Zen-Buddhismus geschulten Buson, ein Tier, eine Pflanze in ihrer unabhängigen Existenz nahe zu bringen - und nicht darum, das Innenleben des Autors zu thematisieren. Ein Wesen nahe zu bringen, das in den Kreislauf von Leben und Sterben eingebunden ist. Solch ein Wesen kann auch ein Mensch sein, doch wird bei diesem das gleiche Maß an Objektivität an den Tag gelegt:

    " Am Wegesrande
    Von Menschenhand zerstreute
    Buchweizenblüten."

    Ohne Gefühle ins Spiel zu bringen beschränkt sich Buson aufs menschliche Dasein an sich. Ein Mensch hinterließ da eine Spur aus Buchweizenblüten, die von seiner Existenz zeugt. Eine Existenz, so fragil, wie die in menschlicher "Ordnung" liegenden Blumen, welche der nächste Windstoß auseinanderwirbeln wird.

    Bis zu Busons Prägnanz war es ein weiter Weg. Das dreizeilige Haiku, welches etwa im 13. Jh. aus dem fünfzeiligen Tanka hervorging, diente lange für Kalauer. Zu seiner Größe und Tiefe, gelangte es erst durch den 1644 geborenen Matsuo, genannt Bashô. Der Zen-Mönch ist in gewisser Weise noch ein Dichter des Übergangs, dem Gefühlsworte als Stütze dienten. Das wird etwa bei diesen Versen Bashôs deutlich:

    " Den ganzen Tag durch
    Wird doch des Singens nicht satt
    Die kleine Lerche."

    Hier wird die Lerche quasi vermenschlicht, indem ihr unterstellt wird, Freude an ihrem Gesang zu haben, obgleich es wohl eher Bashô ist, der von dem Gezwitscher nicht genug bekommen kann. Bashô arbeitete jedoch intensiv an seinem Ausdruck, und so gelang ihm 1679 der entscheidende Wurf:

    " Auf kahles Astwerk
    Hat sich die Krähe niedergesetzt:
    Des Herbstes Abend."

    Um jenen Stil der Direktheit zu halten, wählte Bashô zwei konträre Übungen. Einmal die Meditation in einer Hütte in Edo, vor der ein Bananenbaum stand, japanisch Bashô - daher sein Pseudonym. Dort übte er sich darin seinen Geist auf die Gegenwart auszurichten. Denn jede Spekulation in Bezug auf Vergangenheit oder Zukunft versperre letztlich den Blick auf die Welt wie sie sich im Jetzt zeige. Das Jetzt, wo sich, in immer neuen Wandlungen, das Wesen Buddhas offenbare. Eine Anekdote aus seinem Hüttenleben, führt uns von der Theorie zur Praxis. So hatte Bashô einmal Freunde zu Besuch, die wissen wollten, wie sich Buddha in letzter Zeit in seinem Garten offenbart habe. Doch statt darauf zu antworten, dichtete er rasch ein Haiku zu einem Ereignis, das sich just vollzog, in der Gegenwart:

    " Der alte Weiher:
    Ein Frosch, der grad hineinspringt -
    Des Wassers Platschen."

    In der Hütte seinen Geist vom spekulativen Denken reinigend, verließ Bashô von Zeit zu Zeit die Klause und begab sich, dies seine zweite Übung, auf Wanderschaft. Tausende Kilometer legte er in Japans urtümlicher Landschaft zurück, nun die Beobachtung schärfend. Seine Bemühungen um geistige und stilistische Vervollkommnung setzte er bis zum Ende fort. Bashô starb 1694 - auf einer Wanderung. Noch kurz vor seinem Tod hielt er die beschwerliche Gegenwart fest:

    " Vom Wandern schwer krank:
    Ein Traum, der dürre Heide
    Im Kreise durchirrt. "

    Seit Bashô hat das Haiku eine Entwicklung hin zu strenger Objektivität durchgemacht. Bedeutendster Höhepunkt war Buson. Doch wie häufig bei literarischen Strömungen, hat sich ein bestimmter akzeptierter Stil manifestiert, schlägt das Pendel nach einer Weile in eine neue Richtung aus. Gänzlich andere Aspekte führte der von Schicksalsschlägen heimgesuchte Dichter und Mönch Issa ein. Issa, 1763 als Sohn eines Bauern geboren und 1827 gestorben, rückte verstärkt seelische Vorgänge in den Vordergrund. Dabei wurde der bisherige Realismus nicht aufgegeben, aber Issas Lyrik war weit metaphorischer. So finden seelische Vorgänge ihre spiegelbildliche Entsprechung in der Natur, die man zuvor von Empfindungen freizuhalten suchte, wie in diesem Todesgedicht:

    " Dem kalten Winde
    Dort völlig hingegeben
    Am Grab die Kiefer."

    Dieses Haiku lässt sich auf ein bestimmtes Schicksal Issas beziehen. Nach langen Wanderjahren gründete er eine Familie, doch rasch starben Frau und Kinder. Nun hält sie der Tod im eisernen Griff, wie die Kiefer dem eisigen Wind nicht entgehen kann. Dass Issa viel reiste, liegt am frühen Tod der Mutter. Der nachfolgenden Stiefmutter zu entfliehen, verließ er mit dreizehn Jahren das Haus. Abschiedsgedichte, die über Naturbilder konstruiert sind, sind deshalb keine Seltenheit bei Issa:

    " Dem Herbst, der scheidet,
    Das Pampasgras noch zuwinkt:
    "Leb wohl, lebe wohl!" "

    Wie kurz das menschliche Glück ist, wusste Issa also nur zu gut, und hat dieser Erfahrung, auf seine spezielle Art, Ausdruck verliehen:

    " Für eine Weile
    Der See bis an den Rand voll
    Vom Feuerwerke."

    Die vorliegende Haiku-Sammlung, in der am Original orientierten, behutsamen Übersetzung von Jan Ulenbrook, ist eine wunderbare Lektüre, die, so oft man sie zur Hand nimmt, nicht langweilig wird. Ist sie doch ganz der flüchtigen, schillernden Gegenwart gewidmet, und deshalb voller Bewegung und Leben.

    Da mit fortschreitendem Alter Sorgen und Vorhaben die Aufmerksamkeit von der Gegenwart abziehen, in welcher sich unsere Jüngsten noch vorwiegend aufhalten, schadet es nichts, sich bisweilen Bashôs Satz zu Herzen zu nehmen: "Um Haiku zu schreiben, werde ein drei Fuß großes Kind."

    Literaturhinweise? "Tanka Japanische Fünfzeiler", übersetzt von Jan Ulenbrook (Reclam Stuttgart); Bashô, "Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland", aus dem Japanischen von G. S. Dombrady (Dieterich); "Shinto - Eine Einführung", Ernst Lokowandt (Iudicium Verlag); Nelly Naumann, "Die Mythen des alten Japan", C. H. Beck Verlag