Zelte, soweit das Auge reicht. Mehr als 6.000 sind es; sie bieten ein paar Zehntausend Menschen ein Zuhause. Die meisten kamen 2014 hierher, ins Lager Kharbartu in Irakisch-Kurdistan. Als der IS durch den Nord-Irak stürmte, flohen sie vor den Terroristen. Wie die Familie von Thomas Abdallah Hammou. Der heute Elfjährige selbst wurde damals von seinen Eltern und Geschwistern getrennt; die Dschihadisten verschleppten ihn.
"Ich war zuerst in Tal Afar und dann in Mossul. Ich war bei den IS-Leuten, nicht in einer Familie ... Das Leben dort war nicht gut. Es gab wenig zu essen; einmal haben wir fünfzehn Tage lang nichts bekommen. Und wenig zu trinken, manchmal mussten wir unseren Urin trinken. Die IS-Leute kamen von überall; es waren Amerikaner dabei, Chinesen, Russen, Afghanen."
Koranunterreicht statt Schule
Als die IS-Leute Thomas verschleppten, war er acht Jahre alt. In den drei Jahren, die er beim IS verbrachte, hat er wenige schöne Momente erlebt. Das wird deutlich, wenn Thomas in dem Zelt in Irakisch-Kurdistan von seiner Geiselhaft berichtet. Wobei er – trotz seines verschmitzt frechen Lächelns – redet, wie Jungs in seinem Alter eben mit Fremden reden; schüchtern, mit sparsamen Worten:
"Sie wollten nicht, dass wir spielen. Sie mochten es nicht. Ich habe keine Schule besucht, aber sie gaben uns Koranunterricht. Jeden Tag."
Was einer Zwangskonversion gleichkommt. Denn: Thomas und seine Familie sind Jesiden. Aus Sicht extremistischer Muslime Ungläubige. Die IS-Terroristen, bei denen Thomas wohnte, wollten ihn und ungezählte Jesiden-Kinder mehr zu Nachwuchsterroristen ausbilden.
"Sie haben uns ständig geschlagen. Und wir mussten Schießen üben. Zwei meiner Freunde haben sich in die Luft gesprengt. Sie waren erst bei uns und sind irgendwann zum Training gegangen. Dann kamen sie nicht zurück. Ich war nicht traurig. Sie wollten sich ja in die Luft sprengen. Die IS-Leute hatten es nicht von ihnen nicht verlangt. Sie sind freiwillig gegangen."
Eltern haben Angst vor ihrern eigenen Kindern
Thomas hat einen modernen Haarschnitt; der Nacken ausrasiert; der lange Pony in die Stirn gekämmt; sein Gesicht ist etwas pausbackig. Im Sommer sah er noch anders aus, kurz nachdem die irakische Armee und die mit ihr verbündeten Kräfte Mossul vom IS befreit hatten. Thomas war bei einem Luftangriff der Anti-IS-Koalition schwer verletzt worden; die vorrückenden Soldaten bargen ihn aus den Trümmern eines Hauses; fanden seinen Namen heraus; informierten die Familie. Abdallah Hammou, der Vater, holte ihn. Noch immer hat Abdallah auf dem Handy Fotos von Thomas, kurz nachdem er operiert worden war: Ein bis auf die Rippen abgemagerter, hohlwangiger Junge; mit Verbänden an Händen, Beinen und am Kopf. Diese Wunden sind verheilt oder vernarbt. Aber: Was ist mit den psychischen Verletzungen? – Es gibt andere Eltern, die Angst haben. Müssen. Vor ihren eigenen Kindern, die vom IS zurückgekehrt sind. Die IS-Terroristen haben ihnen unter anderem beigebracht, ihre jesidischen Eltern als Ungläubige zu sehen, die angeblich umgebracht werden sollten. Tickende Zeitbomben. Abdallah Hammou, Thomas Vater:
"Ja, sie müssen Angst vor ihren Kindern haben. Die IS-Leute haben ihnen den Kopf verdreht, in dem sie die Kinder geschult haben. Sie brachten ihnen alles Schlechte bei. Sie lehrten sie, Köpfe abzuschneiden, Sprengstoffgürtel zu zünden; sie brachten ihnen bei, Autos, die mit Sprengsätzen beladen waren, zu fahren. Sie haben sie darin unterrichtet, Bomben zu zünden, zu schießen. Wenn es mir nicht gelungen wäre, meinen Sohn wieder in die rechte Bahn zu lenken, hätte ich ihn nicht vor die Tür gelassen."
Hilfe von Psychologen
Im Lager wurde Thomas geholfen – von Spezialisten, erzählt der Vater: "Es gibt einen Psychologen hier. Aber als Thomas zu uns zurückgekommen war, hatte ich ihn erst einmal in einer Privatklinik untergebracht. Sein Bein war zweifach gebrochen. Danach kam er zu uns ins Lager. Und hier arbeitet auch ein Psychologe; zwei, drei Mal in der Woche sieht er Thomas – es geht ihm gut, Gott sei Dank."
Vater: "Der IS ist nicht am Ende! Er ist noch überall"
Thomas hatte Glück im Unglück: Er wurde von seiner Familie aufgefangen und hat professionelle Hilfe erhalten. Andere Eltern, aber auch Psychotherapeuten und Sozialarbeiter, klagen, dass Kindern wie Thomas oft nicht ausreichend geholfen wird. Wobei die Jesiden offen über das Problem "Kinder-Terrorismus" sprechen – und sprechen können. Denn: Niemand zweifelt daran, dass die Jesiden Opfer der militanten Sunniten des IS wurden. Bei sunnitischen Familien ist das anders: Da sie derselben Religionsgruppe angehören, wie die Dschihadisten, stehen sie bei vielen Kurden und Schiiten unter Generalverdacht, mit dem IS gemeinsame Sache gemacht zu haben. Daher trauen sich Sunniten normalerweise nicht, an die Öffentlichkeit zu gehen, wenn ihre Kinder in den Bann des IS geraten sind, sie selbst aber nichts mit dem IS zu tun hatten. Entsprechend unklar ist, wie viele Kinder zu Terroristen ausgebildet wurden und heute als IS-Schläfer im Irak sind.
Kinder als Schläfer im Irak, die erst in mehreren Jahren aktiv werden
"Kinder arabischer Familien haben", so sagt es Thomas, "das gleiche getan wie jesidische Kinder. Sie haben Waffen getragen und gekämpft. Bis heute leben diese Kinder in Mossul. Und in Lagern. Sie sind gefährlich. Überhaupt ist Mossul bis jetzt voller IS-Leute. Der IS ist nicht am Ende! Er ist noch überall. Überall sind noch Schläfer."
Schläfer im Irak, die möglicherweise erst in mehreren Jahren aktiv werden. Dasselbe dürfte auch für Kinder und Jugendliche in Syrien gelten. Tickende Zeitbomben, ein Erbe des IS, das die Gesellschaften des Nahen Ostens wohl noch lange beschäftigen wird. Der elfjährige Thomas will dagegen vorgehen. Er sagt, wenn er mit der Schule fertig ist, will er Polizist werden, um den IS zu bekämpfen.