In einer ihm selbst nicht ganz klaren Anwandlung, schreibt Marcel Beyer gleich zu Beginn von "Putins Briefkasten", sei er eines Morgens schlaftrunken - man merke sich dieses Wort – in seinen Wagen gestiegen und habe sich von seinem Dresdner Wohnort aus auf den Weg gemacht, um eben diesen Briefkasten aufzusuchen. Im Jahr zuvor, meint der Autor Beyer – oder nennt man ihn vielleicht besser den "namenlosen Erzähler"? – im Jahr zuvor hätte er diesen Briefkasten vor der ehemaligen Wohnung des ehemaligen KGB-Manns Putin noch vorgefunden. Nun aber ist er verschwunden. Und der Leser, erst einmal bereit, alles zu glauben, was er liest, fragt sich allmählich, was das überhaupt für eine seltsame Anwandlung ist und ob der Autor-Erzähler womöglich immer noch in seinen schlaftrunkenen Träumen wandelt.
"Weil solch reale Gegenstände, die selber schon etwas Historisches haben – den Briefkasten am Haus von Putin gibt es nicht mehr, meinen Fiat gibt es nicht mehr – sie sind Auslöser eigentlich auch für Fantasien. Lange folge ich schon so den Realien, das hat so was von einem Essay, dann aber hat es etwas, dass es aufbricht in eine totale Fantasie und ich mich frage: Ist das Ehepaar Putin in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre im Großen Garten spazieren gegangen und hat Wladimir Putin seiner Frau beweisen müssen, wie gut er Deutsch spricht, zum Beispiel."
Ob es den Briefkasten nun gegeben hat oder nicht, er ist nicht nur Anlass eines morgendlichen Ausflugs und einer nachfolgenden Reisebeschreibung, er zieht bald eine weite Spur nach sich. Denn nicht nur die legendären oder fabelhaften, auf jeden Fall unbewiesenen Deutschkenntnisse Putins beschäftigen Beyer, nein, es geht vom Großen Garten in Dresden hinüber zum Zoo, zu den Löwen im Zoo, die sich bald in die berühmten Blumenbergschen Löwen verwandeln und mit einem Mal einen gewissen Dostojewski anbrüllen, der ihnen, wie vielleicht hundert Jahre später sein russischer Landsmann Putin, gar tief in die Augen schaut.
"Bestimmt merkt man an Putins Briefkasten viel stärker den Blick dessen, der Gedichte schreibt, als den Blick dessen, der Romane schreibt, wobei ich eben auch festgestellt habe oder herausgefunden habe so im Verlauf der letzten 15 Jahre, dass Essays so eine großartige Möglichkeit bieten, ohne Plot zu erzählen. Also zum Beispiel es gibt ein Wort, das einem merkwürdig erscheint, und findet dieses Wort an einem anderen Ort der Welt wieder und muss eben nicht einen Helden und seine sozialen Verhältnisse, Spannungsbögen, die dem Erzählerischen geschuldet sind, aufbauen, sondern kann vom einen Wort zum anderen so wie unter der Erde rasch durchschlüpfen und an der anderen Stelle wieder auftauchen."
Die Kunst des "Rasch unter der Erde Durchschlüpfens" praktiziert Marcel Beyer in "Putins Briefkasten" ausgiebig. Ja, in dieser Wendung steckt wohl nicht nur die treffende Charakterisierung dessen, was einen guten Essay auszeichnet, sie fasst mit fünf Worten das poetische Programm dieser "Acht Recherchen" zusammen. Beyer spürt Ähnlichkeiten nach, Verwandtschaften, und ein ums andere Mal gelingt es ihm, vermeintlich weit auseinanderliegende Themen und Gegenstände, Wörter und Bilder in Beziehung zu setzen. Hier macht sich der Dichter in ihm bemerkbar, der mit Metaphern arbeitet und sie überhaupt erst erschafft.
"Also so ein Merkwürdigwerden des Selbstverständlichen am eigenen Ort, das ist ja etwas, was mich umtreibt, ist zu viel gesagt, was mir immer wieder passiert."
Seit Mitte der neunziger Jahre wohnt Marcel Beyer in Dresden. In den Osten zu gehen hat ihn damals gereizt; warum, fragt er sich selbst, vermutlich, weil es der eigenen Schreibhaltung entspricht, dem Interesse am Abgelegenen, das manche das Abseitige nennen. Und so blieb es nicht bei Dresden, viele Reisen haben Beyer noch viel weiter in den Osten geführt, und einige davon haben eine Spur in "Putins Briefkasten" hinterlassen, Reisen nach Minsk, Kiew, Bukarest und Budapest, aber auch ins estländische Narva, das dem Autor-Erzähler später dann, am Berliner Bahnhof Warschauer Straße, als Name einer Glühbirnenfabrik wiederbegegnet. Heute, heißt es recht zu Anfang
"muss, damit ich in den Taumel gerate, die Einheit des Ortes nicht gewahrt bleiben, im Gegenteil, ich verspüre ihn gerade dann, wenn ich meinen angestammten Ort verlasse und einer Himmelsrichtung folge: Nach Osten."
Dieser Taumel wird sogar durch die Typographie befeuert, die häufig so fremd anmutenden Schriftarten auf polnischen, russischen, ukrainischen Schildern. Dass Beyer die slawischen Sprachen nicht spricht, spielt dabei keine Rolle, im Gegenteil, "Sinn", schreibt er, "Sinn lenkt ab". Gleichwohl ist im Laufe des Buches davon die Rede, dass bestimmte östliche Räume, die eine bestimmte Ästhetik, einen bestimmten Geruch bewahren, für den nun schon alteingesessenen Dresdner nichts Verwunschenes mehr ausstrahlen. "Bin ich am Ende erschöpft vom Osten", stellt sich der Autor zuletzt selbst die Frage.
"Ja, der Essay ist eine Form der Selbstvergewisserung, aber immer in dem Sinne, dass Identität nicht etwas Statisches ist, sondern immer ein Prozess, unsere Identität besteht bis zu unserem letzten Lebenstag, und wenn man sich das Schreiben wirklich als einen immer weiter gesponnenen Faden vorstellt, ist schon die rein handwerkliche Tätigkeit des Schreibens so etwas wie Selbstvergewisserung oder Identitätsgewinnung. Und es gibt ja diesen Unterschied, und der ist mir auch wichtig und auf den weise ich auch immer wieder gerne hin, zwischen dem tatsächlichen Sehen, ich bin irgendwo in der Fremde und schaue von mir aus auf den Bahnhofsvorplatz in Minsk, und es gibt den Unterschied zwischen diesem Blick und dem Notieren und Schildern dieses Blicks."
Dem genauen Blick nicht nur auf die äußere Wirklichkeit, auch dem genauen Blick aufs Schreiben selbst begegnet man in "Putins Briefkasten" immer wieder, dem Blick aufs Schreiben anderer – wie in einer brillanten Passage zu einem Gedicht Paul Celans – wie davon ausgehend auch aufs eigene Schreiben. So etwa, wenn es um das Vokabular des Imkers geht:
Die Sprachbildung wird beim Umgang mit Bienen nahezu automatisch angeregt. Am Sonnenwachsschmelzer geht die Arbeit gut voran. Ich beobachte ein Volk am Fangkorb, wo natürlich heftig gesterzelt wird. Unwillkürlich legt man Literaturlisten ungeschriebener Bücher an: Die Schwarmverhinderung, Beim Bienenzuchtberater, Erinnerungen aus dem Schleuderraum. Und schon fahre ich wieder mit der Gemüllkrücke in den Totenfall. Magie. Hormone. Wer Imkersprache liest, beginnt umgehend mit dem verbalen Wabenbau.
Ähnlich ergeht es dem Leser von "Putins Briefkasten". Ob Marcel Beyer mit Joseph Conrad über Schweizer Sprachgrenzen hinwegwandert, ob er Zygmunt Haupt und Jörg Haider gemeinsam in einem Phaeton Platz nehmen lässt, ob er von diesem Gefährt aus auf die Kutschen bei Flaubert und Proust kommt und schließlich auf den eigenen Fiat, um bald darauf einem Hund auf einem Gemälde Gerhard Richters nachzujagen – stets ergeben sich erstaunliche Begegnungen. Dabei bleiben Beyers Essay-Erzählungen immerfort in Bewegung. Wie in einem Bienenstock werden ein ums andere Mal neue Erzählwaben gebildet. Und jede dieser Waben hat, je nachdem, wo die Pollen gesammelt wurden, ihren eigenen, meist vorzüglichen Geschmack.
Marcel Beyer: Putins Briefkasten.
Acht Recherchen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 224 Seiten, 8,99 Euro
"Weil solch reale Gegenstände, die selber schon etwas Historisches haben – den Briefkasten am Haus von Putin gibt es nicht mehr, meinen Fiat gibt es nicht mehr – sie sind Auslöser eigentlich auch für Fantasien. Lange folge ich schon so den Realien, das hat so was von einem Essay, dann aber hat es etwas, dass es aufbricht in eine totale Fantasie und ich mich frage: Ist das Ehepaar Putin in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre im Großen Garten spazieren gegangen und hat Wladimir Putin seiner Frau beweisen müssen, wie gut er Deutsch spricht, zum Beispiel."
Ob es den Briefkasten nun gegeben hat oder nicht, er ist nicht nur Anlass eines morgendlichen Ausflugs und einer nachfolgenden Reisebeschreibung, er zieht bald eine weite Spur nach sich. Denn nicht nur die legendären oder fabelhaften, auf jeden Fall unbewiesenen Deutschkenntnisse Putins beschäftigen Beyer, nein, es geht vom Großen Garten in Dresden hinüber zum Zoo, zu den Löwen im Zoo, die sich bald in die berühmten Blumenbergschen Löwen verwandeln und mit einem Mal einen gewissen Dostojewski anbrüllen, der ihnen, wie vielleicht hundert Jahre später sein russischer Landsmann Putin, gar tief in die Augen schaut.
"Bestimmt merkt man an Putins Briefkasten viel stärker den Blick dessen, der Gedichte schreibt, als den Blick dessen, der Romane schreibt, wobei ich eben auch festgestellt habe oder herausgefunden habe so im Verlauf der letzten 15 Jahre, dass Essays so eine großartige Möglichkeit bieten, ohne Plot zu erzählen. Also zum Beispiel es gibt ein Wort, das einem merkwürdig erscheint, und findet dieses Wort an einem anderen Ort der Welt wieder und muss eben nicht einen Helden und seine sozialen Verhältnisse, Spannungsbögen, die dem Erzählerischen geschuldet sind, aufbauen, sondern kann vom einen Wort zum anderen so wie unter der Erde rasch durchschlüpfen und an der anderen Stelle wieder auftauchen."
Die Kunst des "Rasch unter der Erde Durchschlüpfens" praktiziert Marcel Beyer in "Putins Briefkasten" ausgiebig. Ja, in dieser Wendung steckt wohl nicht nur die treffende Charakterisierung dessen, was einen guten Essay auszeichnet, sie fasst mit fünf Worten das poetische Programm dieser "Acht Recherchen" zusammen. Beyer spürt Ähnlichkeiten nach, Verwandtschaften, und ein ums andere Mal gelingt es ihm, vermeintlich weit auseinanderliegende Themen und Gegenstände, Wörter und Bilder in Beziehung zu setzen. Hier macht sich der Dichter in ihm bemerkbar, der mit Metaphern arbeitet und sie überhaupt erst erschafft.
"Also so ein Merkwürdigwerden des Selbstverständlichen am eigenen Ort, das ist ja etwas, was mich umtreibt, ist zu viel gesagt, was mir immer wieder passiert."
Seit Mitte der neunziger Jahre wohnt Marcel Beyer in Dresden. In den Osten zu gehen hat ihn damals gereizt; warum, fragt er sich selbst, vermutlich, weil es der eigenen Schreibhaltung entspricht, dem Interesse am Abgelegenen, das manche das Abseitige nennen. Und so blieb es nicht bei Dresden, viele Reisen haben Beyer noch viel weiter in den Osten geführt, und einige davon haben eine Spur in "Putins Briefkasten" hinterlassen, Reisen nach Minsk, Kiew, Bukarest und Budapest, aber auch ins estländische Narva, das dem Autor-Erzähler später dann, am Berliner Bahnhof Warschauer Straße, als Name einer Glühbirnenfabrik wiederbegegnet. Heute, heißt es recht zu Anfang
"muss, damit ich in den Taumel gerate, die Einheit des Ortes nicht gewahrt bleiben, im Gegenteil, ich verspüre ihn gerade dann, wenn ich meinen angestammten Ort verlasse und einer Himmelsrichtung folge: Nach Osten."
Dieser Taumel wird sogar durch die Typographie befeuert, die häufig so fremd anmutenden Schriftarten auf polnischen, russischen, ukrainischen Schildern. Dass Beyer die slawischen Sprachen nicht spricht, spielt dabei keine Rolle, im Gegenteil, "Sinn", schreibt er, "Sinn lenkt ab". Gleichwohl ist im Laufe des Buches davon die Rede, dass bestimmte östliche Räume, die eine bestimmte Ästhetik, einen bestimmten Geruch bewahren, für den nun schon alteingesessenen Dresdner nichts Verwunschenes mehr ausstrahlen. "Bin ich am Ende erschöpft vom Osten", stellt sich der Autor zuletzt selbst die Frage.
"Ja, der Essay ist eine Form der Selbstvergewisserung, aber immer in dem Sinne, dass Identität nicht etwas Statisches ist, sondern immer ein Prozess, unsere Identität besteht bis zu unserem letzten Lebenstag, und wenn man sich das Schreiben wirklich als einen immer weiter gesponnenen Faden vorstellt, ist schon die rein handwerkliche Tätigkeit des Schreibens so etwas wie Selbstvergewisserung oder Identitätsgewinnung. Und es gibt ja diesen Unterschied, und der ist mir auch wichtig und auf den weise ich auch immer wieder gerne hin, zwischen dem tatsächlichen Sehen, ich bin irgendwo in der Fremde und schaue von mir aus auf den Bahnhofsvorplatz in Minsk, und es gibt den Unterschied zwischen diesem Blick und dem Notieren und Schildern dieses Blicks."
Dem genauen Blick nicht nur auf die äußere Wirklichkeit, auch dem genauen Blick aufs Schreiben selbst begegnet man in "Putins Briefkasten" immer wieder, dem Blick aufs Schreiben anderer – wie in einer brillanten Passage zu einem Gedicht Paul Celans – wie davon ausgehend auch aufs eigene Schreiben. So etwa, wenn es um das Vokabular des Imkers geht:
Die Sprachbildung wird beim Umgang mit Bienen nahezu automatisch angeregt. Am Sonnenwachsschmelzer geht die Arbeit gut voran. Ich beobachte ein Volk am Fangkorb, wo natürlich heftig gesterzelt wird. Unwillkürlich legt man Literaturlisten ungeschriebener Bücher an: Die Schwarmverhinderung, Beim Bienenzuchtberater, Erinnerungen aus dem Schleuderraum. Und schon fahre ich wieder mit der Gemüllkrücke in den Totenfall. Magie. Hormone. Wer Imkersprache liest, beginnt umgehend mit dem verbalen Wabenbau.
Ähnlich ergeht es dem Leser von "Putins Briefkasten". Ob Marcel Beyer mit Joseph Conrad über Schweizer Sprachgrenzen hinwegwandert, ob er Zygmunt Haupt und Jörg Haider gemeinsam in einem Phaeton Platz nehmen lässt, ob er von diesem Gefährt aus auf die Kutschen bei Flaubert und Proust kommt und schließlich auf den eigenen Fiat, um bald darauf einem Hund auf einem Gemälde Gerhard Richters nachzujagen – stets ergeben sich erstaunliche Begegnungen. Dabei bleiben Beyers Essay-Erzählungen immerfort in Bewegung. Wie in einem Bienenstock werden ein ums andere Mal neue Erzählwaben gebildet. Und jede dieser Waben hat, je nachdem, wo die Pollen gesammelt wurden, ihren eigenen, meist vorzüglichen Geschmack.
Marcel Beyer: Putins Briefkasten.
Acht Recherchen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 224 Seiten, 8,99 Euro