Christoph Heinemann: Der Geist der Feuerzangenbowle herrscht schon lange nicht mehr im deutschen Bildungssystem. Schulen und Hochschulen sind nicht oder längst nicht mehr Horte einer idealisierten Pennäler- oder Studienzeit, so wie sie Heinz Rühmann in dem bekannten Film vorspielte. Bologna ist in die deutschen Hochschulen eingezogen. In der Hauptstadt der italienischen Region Emilia-Romagna wurde einst, 1999, das in Bachelor und Master geteilte Studium auf den Weg gebracht. Kritiker meinen, Humboldt hätte damals seine Koffer packen müssen, die Idee des großen Bildungsreformers einer verantwortlichen Selbststeuerung von Lehre und Lernen habe einer Verschulung der Hochschulen weichen müssen.
Über den Stand des Erreichten beraten gegenwärtig Bildungs- und Wissenschaftsminister der 46 am Bologna-Prozess beteiligten Staaten in Bukarest.
Wir wollen Bologna bilanzieren mit Kai Gehring, Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen für Bildungs- und Hochschulpolitik und Mitglied des Bildungsausschusses des Deutschen Bundestages. Guten Morgen.
Kai Gehring: Guten Morgen, Herr Heinemann.
Heinemann: Wird zu viel geprüft?
Gehring: Definitiv wird zu viel geprüft. Also wir sehen ja, dass viele Bologna-Ziele gut gemeint waren, die Umsetzung der Reform aber schlecht gemacht wurde und wesentliche Ziele wie mehr Mobilität und bessere Anerkennung von Studienleistungen werden nach wie vor verfehlt, und da hilft auch kein Schönreden der Bundesbildungsministerin, sondern wirklich nur konkretes Handeln. Von einer echten mobilitätsfreundlichen europäischen Hochschulreform und einem Hochschulraum sind wir leider auch im 13. Bologna-Jahr noch weit entfernt und die Studierenden haben recht. Sie beklagen zurecht die hohe Arbeitsbelastung, Prüferitis, und sie fordern eben auch Freiräume für selbstbestimmtes Lernen ein. Diese Probleme werden zunehmend erkannt, aber sie werden noch nicht gelöst.
Heinemann: Heißt das zurück zu Humboldt, weg von Bologna?
Gehring: Ich finde, Humboldt muss auch Platz in Bologna finden, aber es geht nicht, dass Ministerin Schavan letztlich nur verwaltet statt gestaltet. Da kann man ja was tun. Wenn man "work load" herunterfahren will, die Arbeitsbelastung reduzieren will, Schluss machen will mit Prüferitis, da kann man ja was tun.
Heinemann: Was denn?
Gehring: Dann sollen die nationalen Bologna-Konferenzen eben nicht nur Kaffeekränzchen mit der Ministerin werden, sondern es muss dann mit der Kultusministerkonferenz, mit den Ländern, mit den Hochschulen verabredet werden, dass dann auch die Arbeitsbelastung deutlich reduziert wird. Ein Studium ist eben heute nicht einfach besser, sondern es ist überstrukturiert und es ist stressiger geworden, und dieses Rezept "Verschulen, Verdichten, Umbenennen" war kein kluges Rezept für die Umstellung auf Bachelor und Master.
Heinemann: Können Sie mal ein Beispiel nennen für meinetwegen ein Germanistikstudium? Was müsste sich ändern?
Gehring: Jeder Studiengang ist ja anders und da ist die Herausforderung oder das, was wir hören von den Studierenden, dass man teilweise innerhalb einer Woche vier, fünf Klausuren zu schreiben hat, in der Woche darauf drei Arbeiten abzugeben hat, Hausarbeiten, Seminararbeiten, und das ist einfach viel zu viel, weil man ja gleichzeitig auch noch aufgefordert ist, ins Ausland zu gehen, weil man studentische Nebenjobs machen muss oder auch Praktika leisten möchte, und deshalb brauchen wir dringend Zeit- und Mobilitätsfenster im Studium und es muss da einfach eine Entfrachtung des Studiums geben und auch wieder mehr Freiräume und mehr Flexibilität. Das haben einige Hochschulen auch bei den Reakkreditierungen erkannt, aber das hat in der Fläche noch nicht Fuß gefasst und da müssen wir dringend dran arbeiten. Sonst werden die Akzeptanzprobleme dieser Reform nicht gelöst.
Heinemann: Schauen wir uns die Abschlüsse an. Ist der Bachelor-Abschluss überhaupt berufsqualifizierend?
Gehring: Der Bachelor muss berufsqualifizierend sein. Ich halte ihn auch dafür. Wir müssen hier allerdings auch ein sehr ernstes Wörtchen mit der Wirtschaft sprechen. Die waren damals große Befürworter dieser Bologna-Reform und die müssen die Bachelor-Absolventinnen und Absolventen jetzt eben auch einstellen, sie müssen diese Abschlüsse eben nicht als Diplom light ansehen, sondern als berufsqualifizierend, und da ist noch einiges zu leisten. Das geht nicht, dass man dann sagt, ihr seid ja irgendwie nur so halbe Akademiker, und das heißt aber auch, dass wir mehr jungen Menschen ermöglichen müssen und allen, die es wollen, auch wirklich einen Master-Abschluss machen zu können.
Heinemann: Entschuldigung, Herr Gehring. Die Schwierigkeiten der Annahme dieses Bachelor-Abschlusses zeigen doch, dass er offenbar als zweitklassig empfunden wird. Ist das eine Art Diesel-Diplom?
Gehring: Ich halte das nicht für ein Diesel-Diplom, aber es ist ja schon so, dass tatsächlich in vielen Unternehmen gedacht wird, das ist irgendwie so was wie ein Vordiplom. Das ist aber völlig schizophren. Da hat man früher gesagt, unsere Hochschulabsolventinnen und Absolventen sind zu alt, jetzt wirft man ihnen teilweise vor, zu jung zu sein, die junge Generation kann es dann vielen offensichtlich auch nicht recht machen. Ich erlebe eine junge Generation, die sehr gut qualifiziert ist, die auch tatsächlich auf den Arbeitsmarkt vorbereitet ist. Man muss ihnen aber auch die Chance dazu geben und einräumen und entsprechend auch einstellen und ich möchte, dass wirklich alle, die auch weiter studieren möchten, dann einen Master-Studienplatz bekommen. Wir haben jetzt schon aufgrund des erheblichen Mangels an Studienplätzen das Problem, dass teilweise nur noch ein Einser-Abi wirklich die Hörsaaltür öffnet, und da muss mehr passieren, da muss der Studienplatzausbau vorangetrieben werden.
Heinemann: Herr Gehring, benötigen wir nach den Bologna-Abschlüssen auch eine Promotion Bolognese?
Gehring: Ich finde das, wie wir das in Deutschland mit der Promotion jetzt gerade geregelt haben, in Ordnung. Da muss man, glaube ich, eher über die Frage sprechen, wie können wir die Qualität verbessern und die Promotionsverfahren so gut machen, dass wir eben keine Plagiate produzieren, sondern wirklich eine gute Betreuung und eben auch eine echte Qualitätssicherung von Promotionen haben.
Heinemann: Herr Gehring, durch die Verkürzung der gymnasialen Oberstufe und die Aufhebung der Wehrpflicht erleben die Hochschulen eine Völkerwanderung im Augenblick. Was raten Sie Studierenden, die keine Kampfsportart beherrschen?
Gehring: Es ist leider bedauerlich, dass der Hochschulzugang zur Lotterie verkommt, weil das dialogorientierte Serviceverfahren nicht funktioniert. Das ist ein schwerer Fehler, den auch die Bundesbildungsministerin hier nicht behebt. Und zum anderen fehlen massenhaft Studienplätze in Deutschland. Und man darf nicht über Fachkräftemangel lamentieren und mangelnden Bildungsaufstieg dann kritisieren und gleichzeitig die Studienplätze nicht schaffen, das ist absurd, sondern wir brauchen einen massiven Ausbau an Studienplätzen, damit jeder auch einen Studienplatz findet. Das muss nicht unbedingt vor Ort in der gleichen Stadt sein, das kann auch irgendwo anders in der Republik sein. Das bedeutet dann aber, dass wir auch die Studienfinanzierung verbessern, denn für diejenigen aus armen Elternhäusern ist es weniger leicht, mobil zu sein, und deshalb müssen da auch die ganzen Fragen der sozialen Dimension, die ja auch ein Kernbestandteil der Bologna-Reform waren, das muss endlich stärker angegangen werden, also mehr Beratung, mehr Betreuung, soziale Infrastruktur auf dem Campus, verlässliche Studienfinanzierung und in Niedersachsen und Bayern auch die Studiengebühren abschaffen, weil auch das dazu führt, dass wir die soziale Öffnung der Hochschulen eben nicht hinkriegen. Also soziale Öffnung der Hochschulen für bisher unterrepräsentierte Gruppen, Arbeiter- und Migrantenkinder vor allem, weil die gesellschaftliche Vielfalt sich auch auf dem Campus niederschlagen soll.
Heinemann: Kai Gehring, Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen für Bildungs- und Hochschulpolitik und Mitglied des Bundestagsbildungsausschusses. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Gehring: Danke! Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Über den Stand des Erreichten beraten gegenwärtig Bildungs- und Wissenschaftsminister der 46 am Bologna-Prozess beteiligten Staaten in Bukarest.
Wir wollen Bologna bilanzieren mit Kai Gehring, Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen für Bildungs- und Hochschulpolitik und Mitglied des Bildungsausschusses des Deutschen Bundestages. Guten Morgen.
Kai Gehring: Guten Morgen, Herr Heinemann.
Heinemann: Wird zu viel geprüft?
Gehring: Definitiv wird zu viel geprüft. Also wir sehen ja, dass viele Bologna-Ziele gut gemeint waren, die Umsetzung der Reform aber schlecht gemacht wurde und wesentliche Ziele wie mehr Mobilität und bessere Anerkennung von Studienleistungen werden nach wie vor verfehlt, und da hilft auch kein Schönreden der Bundesbildungsministerin, sondern wirklich nur konkretes Handeln. Von einer echten mobilitätsfreundlichen europäischen Hochschulreform und einem Hochschulraum sind wir leider auch im 13. Bologna-Jahr noch weit entfernt und die Studierenden haben recht. Sie beklagen zurecht die hohe Arbeitsbelastung, Prüferitis, und sie fordern eben auch Freiräume für selbstbestimmtes Lernen ein. Diese Probleme werden zunehmend erkannt, aber sie werden noch nicht gelöst.
Heinemann: Heißt das zurück zu Humboldt, weg von Bologna?
Gehring: Ich finde, Humboldt muss auch Platz in Bologna finden, aber es geht nicht, dass Ministerin Schavan letztlich nur verwaltet statt gestaltet. Da kann man ja was tun. Wenn man "work load" herunterfahren will, die Arbeitsbelastung reduzieren will, Schluss machen will mit Prüferitis, da kann man ja was tun.
Heinemann: Was denn?
Gehring: Dann sollen die nationalen Bologna-Konferenzen eben nicht nur Kaffeekränzchen mit der Ministerin werden, sondern es muss dann mit der Kultusministerkonferenz, mit den Ländern, mit den Hochschulen verabredet werden, dass dann auch die Arbeitsbelastung deutlich reduziert wird. Ein Studium ist eben heute nicht einfach besser, sondern es ist überstrukturiert und es ist stressiger geworden, und dieses Rezept "Verschulen, Verdichten, Umbenennen" war kein kluges Rezept für die Umstellung auf Bachelor und Master.
Heinemann: Können Sie mal ein Beispiel nennen für meinetwegen ein Germanistikstudium? Was müsste sich ändern?
Gehring: Jeder Studiengang ist ja anders und da ist die Herausforderung oder das, was wir hören von den Studierenden, dass man teilweise innerhalb einer Woche vier, fünf Klausuren zu schreiben hat, in der Woche darauf drei Arbeiten abzugeben hat, Hausarbeiten, Seminararbeiten, und das ist einfach viel zu viel, weil man ja gleichzeitig auch noch aufgefordert ist, ins Ausland zu gehen, weil man studentische Nebenjobs machen muss oder auch Praktika leisten möchte, und deshalb brauchen wir dringend Zeit- und Mobilitätsfenster im Studium und es muss da einfach eine Entfrachtung des Studiums geben und auch wieder mehr Freiräume und mehr Flexibilität. Das haben einige Hochschulen auch bei den Reakkreditierungen erkannt, aber das hat in der Fläche noch nicht Fuß gefasst und da müssen wir dringend dran arbeiten. Sonst werden die Akzeptanzprobleme dieser Reform nicht gelöst.
Heinemann: Schauen wir uns die Abschlüsse an. Ist der Bachelor-Abschluss überhaupt berufsqualifizierend?
Gehring: Der Bachelor muss berufsqualifizierend sein. Ich halte ihn auch dafür. Wir müssen hier allerdings auch ein sehr ernstes Wörtchen mit der Wirtschaft sprechen. Die waren damals große Befürworter dieser Bologna-Reform und die müssen die Bachelor-Absolventinnen und Absolventen jetzt eben auch einstellen, sie müssen diese Abschlüsse eben nicht als Diplom light ansehen, sondern als berufsqualifizierend, und da ist noch einiges zu leisten. Das geht nicht, dass man dann sagt, ihr seid ja irgendwie nur so halbe Akademiker, und das heißt aber auch, dass wir mehr jungen Menschen ermöglichen müssen und allen, die es wollen, auch wirklich einen Master-Abschluss machen zu können.
Heinemann: Entschuldigung, Herr Gehring. Die Schwierigkeiten der Annahme dieses Bachelor-Abschlusses zeigen doch, dass er offenbar als zweitklassig empfunden wird. Ist das eine Art Diesel-Diplom?
Gehring: Ich halte das nicht für ein Diesel-Diplom, aber es ist ja schon so, dass tatsächlich in vielen Unternehmen gedacht wird, das ist irgendwie so was wie ein Vordiplom. Das ist aber völlig schizophren. Da hat man früher gesagt, unsere Hochschulabsolventinnen und Absolventen sind zu alt, jetzt wirft man ihnen teilweise vor, zu jung zu sein, die junge Generation kann es dann vielen offensichtlich auch nicht recht machen. Ich erlebe eine junge Generation, die sehr gut qualifiziert ist, die auch tatsächlich auf den Arbeitsmarkt vorbereitet ist. Man muss ihnen aber auch die Chance dazu geben und einräumen und entsprechend auch einstellen und ich möchte, dass wirklich alle, die auch weiter studieren möchten, dann einen Master-Studienplatz bekommen. Wir haben jetzt schon aufgrund des erheblichen Mangels an Studienplätzen das Problem, dass teilweise nur noch ein Einser-Abi wirklich die Hörsaaltür öffnet, und da muss mehr passieren, da muss der Studienplatzausbau vorangetrieben werden.
Heinemann: Herr Gehring, benötigen wir nach den Bologna-Abschlüssen auch eine Promotion Bolognese?
Gehring: Ich finde das, wie wir das in Deutschland mit der Promotion jetzt gerade geregelt haben, in Ordnung. Da muss man, glaube ich, eher über die Frage sprechen, wie können wir die Qualität verbessern und die Promotionsverfahren so gut machen, dass wir eben keine Plagiate produzieren, sondern wirklich eine gute Betreuung und eben auch eine echte Qualitätssicherung von Promotionen haben.
Heinemann: Herr Gehring, durch die Verkürzung der gymnasialen Oberstufe und die Aufhebung der Wehrpflicht erleben die Hochschulen eine Völkerwanderung im Augenblick. Was raten Sie Studierenden, die keine Kampfsportart beherrschen?
Gehring: Es ist leider bedauerlich, dass der Hochschulzugang zur Lotterie verkommt, weil das dialogorientierte Serviceverfahren nicht funktioniert. Das ist ein schwerer Fehler, den auch die Bundesbildungsministerin hier nicht behebt. Und zum anderen fehlen massenhaft Studienplätze in Deutschland. Und man darf nicht über Fachkräftemangel lamentieren und mangelnden Bildungsaufstieg dann kritisieren und gleichzeitig die Studienplätze nicht schaffen, das ist absurd, sondern wir brauchen einen massiven Ausbau an Studienplätzen, damit jeder auch einen Studienplatz findet. Das muss nicht unbedingt vor Ort in der gleichen Stadt sein, das kann auch irgendwo anders in der Republik sein. Das bedeutet dann aber, dass wir auch die Studienfinanzierung verbessern, denn für diejenigen aus armen Elternhäusern ist es weniger leicht, mobil zu sein, und deshalb müssen da auch die ganzen Fragen der sozialen Dimension, die ja auch ein Kernbestandteil der Bologna-Reform waren, das muss endlich stärker angegangen werden, also mehr Beratung, mehr Betreuung, soziale Infrastruktur auf dem Campus, verlässliche Studienfinanzierung und in Niedersachsen und Bayern auch die Studiengebühren abschaffen, weil auch das dazu führt, dass wir die soziale Öffnung der Hochschulen eben nicht hinkriegen. Also soziale Öffnung der Hochschulen für bisher unterrepräsentierte Gruppen, Arbeiter- und Migrantenkinder vor allem, weil die gesellschaftliche Vielfalt sich auch auf dem Campus niederschlagen soll.
Heinemann: Kai Gehring, Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen für Bildungs- und Hochschulpolitik und Mitglied des Bundestagsbildungsausschusses. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Gehring: Danke! Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.