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Von Fremdheit und Abgründen

In Marie NDiayes Romanen geht es viel um Familie und Liebe. Es gelingt ihr, diese Urthemen der Literatur neu und originell dazustellen. Dabei bedient sie sich einer hochliterarischen Sprache, die der französischen Literaturtradition verbunden ist.

Jürgen Ritte im Gespräch mit Katja Lückert |
    Katja Lückert: Mit dem Roman "Trois femmes puissantes", auf Deutsch etwa "Drei starke oder mächtige Frauen", beschäftigt sich Marie NDiaye zum ersten Mal mit dem Schicksal von Frauen aus Afrika, denn eigentlich fühlte sie sich als Tochter einer Französin und eines Senegalesen, der aber die Familie verlassen hatte, als sie noch sehr klein war, nie als Expertin für Fragen der Négritude oder der Migration in Frankreich. Marie NDiaye veröffentlichte ihren ersten Roman unter dem Titel "Was die reiche Zukunft betrifft" nach dem Abitur mit 18 Jahren und schrieb seitdem mehrere Theaterstücke und Romane. Marie NDiaye lebt zurzeit mit ihrer Familie und drei Kindern in Berlin, sie lernt Deutsch an der Volkshochschule und hat als Erklärung für diesen Umzug angegeben, seit Präsident Sarkozy an der Macht sei, sei die Atmosphäre in Frankreich vergiftet. Jürgen Ritte, hat NDiaye Frankreich aus Protest verlassen?

    Jürgen Ritte: Na, ich glaube nicht nur aus Protest, NDiaye globalisiert sehr viel, sie hat ihren Wohnsitz häufig gewechselt, das erscheint in all ihren Biografien, und Berlin kennt sie sehr gut. Ich selbst habe sie dort 1988 kennengelernt, da war sie schon seit längerer Zeit in Berlin, und sie hat zwischendurch immer wieder Berlin-Aufenthalte gehabt. Also es kommt einiges zusammen. Sarkozy war vielleicht der Auslöser, jetzt die Zelte in Berlin aufzuschlagen.

    Lückert: Der ehemalige Präsident des Senegal, Leopold Sedar Senghor, war ab 1983 der erste Afrikaner in der Académie française. Mag es sein, dass man sich aus dieser alten Tradition heraus Autoren wie NDiaye noch verbunden fühlt, auch wenn sie immer wieder betont, als Französin zu schreiben?

    Ritte: Ja, ich glaube, das kann man nicht in die Linie mit Senghor setzen und der berühmten Négritude oder der Littérature française francophone, also der frankofonen afrikanischen Literatur. Wie Sie eben richtig gesagt haben, Marie NDiaye hat sich nie mit der afrikanischen Problematik, auch nie mit Emigrationsproblematik in all ihren Romanen befasst. Insofern ist sie eine Ausnahme unter den schwarzafrikanischen Autoren. Aber sie ist ja auch kein schwarzafrikanischer Autor, außer dass sie eben den Vater aus dem Senegal hat.

    Sie hat sich darin nie wiedererkannt und es ist wie gesagt jetzt das erste Mal, dass sie eine afrikanische Problematik in ihren Roman hineingenommen hat, wo es eben um drei Frauenschicksale geht. Das erinnert ein kleines bisschen an Musils Erzählungen, drei Frauen, denn diese drei Frauenschicksale sind miteinander thematisch überhaupt nicht verbunden. Es liest sich fast so wie ein Buch mit drei Novellen. Und der Zusammenhang besteht darin, dass diese Frauen gewaltige Probleme haben, zwischen den Kulturen stehen, aber vor allen Dingen gewaltige Probleme haben und die auch auf ihre Art und Weise zu lösen versuchen als Frauen in einer von Männern beherrschten Welt.

    Lückert: Rätselhaft und beklemmend sind NDiaye s Geschichten. Einmal hat sie in einem Interview das Attribut kafkaesk für ihre Texte als Kompliment aufgefasst. Was sind ihre Themen?

    Ritte: Ihre Themen sind in der Tat die Fremdheit und die Abgründe, die psychischen Abgründe in allen Menschen. Sie macht aber keine psychologische Literatur, sondern sie lotet diese Abgründe immer punktuell aus – sie lässt Gewalt hervorbrechen –, und alles das tut sie in einer Sprache, die hochliterarisch ist und die von Anfang an, also schon im Alter von 17 Jahren, als sie ihren ersten Roman schrieb, der bei Minuit publiziert wurde, das tut sie in einer Sprache, die sehr, sehr stark der französischen Literaturtradition verpflichtet ist. Also man hört überall die klassische Literaturtradition Frankreichs heraus. Einer ihrer Romane besteht aus einem einzigen Satz über 100 Seiten, das sind solche Sprachexperimente, wie sie der Nouveau Roman in der Tat ins Leben gerufen hat. Also alles das nimmt sie auf – die große Tradition und die Tradition der Moderne in der französischen Literatur, und es ist literarisch höchst komplex und höchst diffizil gestrickt, was Marie NDiaye schreibt.

    Lückert: Und es geht aber auch immer wieder um Familien?

    Ritte: Es geht immer wieder um Familien, es geht auch immer wieder um Liebe, also es geht immer wieder um die alten Urthemen der Literatur. Aber noch einmal: Die Themen sind alt, aber der Witz liegt ja immer in der neuen Darstellung und der neuen Herangehensweise, und die ist bei Marie NDiaye doch sehr originell, sehr phänomenologisch gemacht.

    Lückert: Marie NDiaye ist schon vor acht Jahren für ihren Roman "Rosie Carpe" mit dem renommierten Prix Femina ausgezeichnet worden. Sie hat zuletzt den Verlag gewechselt und ist jetzt auch bei Gallimard unter Vertrag. Man munkelt so ein bisschen, dass das in jedem Fall die Eintrittskarte ist, um in die engere Wahl auch für den Goncourt zu gelangen.

    Ritte: In etwa. Also bei den Goncourt-Preisen ist es ja immer so wie bei den Formel-1-Rennen, es gibt den Fahrer und es gibt den Stall. Und diesmal hat wieder Gallimard gewonnen. Nun muss man dazusagen, dass Gallimard jetzt schon viermal hintereinander gewonnen hat, auch wenn bei den letzten drei Preisträgern nur zweimal Gallimard drauf stand. Es sind dann die kleinen Häuser wie der Mercure de France oder POL., bei dem Marie NDiaye zuletzt unter Vertrag war. Das alles sind Filialen von Gallimard. Also Gallimard ist eine Gruppe, eine große Verlagsgruppe, die den Goncourt-Preis inzwischen beherrscht.

    Lückert: Jürgen Ritte über die neue Prix-Goncourt-Preisträgerin Marie NDiaye .