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Von ganz weit weg - Einwanderer aus der Sowjetunion

Etwa 200.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sind seit 1990 nach Deutschland eingewandert. Mehr als die Hälfte von ihnen schloss sich jüdischen Gemeinden an. Wie die Eingewanderten den Wechsel von der alten Heimat in die neue Umgebung erlebt haben, wird jetzt in einer Ausstellung im Jüdischen Museum in München vorgestellt.

Von Heinz-Peter Katlewski |
    Am Anfang stand das Ende einer Erklärung. Sabine Bergmann-Pohl, die Präsidentin der ersten frei gewählten DDR-Volkskammer, äußerte sich am 12. April 1990 vor dem DDR-Parlament zum neuen Verhältnis der DDR zu Israel, zum Judentum und zu den Juden. Ihr letzter Satz lautete:

    "Wir treten dafür ein, verfolgten Juden in der DDR Asyl zu gewähren."

    Eine Video-Station zu Beginn dieser Ausstellung erinnert an diese Rede. Schon ein paar Wochen zuvor waren rund 70 Juden aus der Sowjetunion mit Touristenvisum eingereist und bei den Ostberliner Behörden vorstellig geworden. Ausbrüche von Antisemitismus, Putschgerüchte, schlechte medizinische Versorgung, der strahlende Reaktor in Tschernobyl und Lebensmittelknappheit sind einige Gründe, die den Wunsch, auszuwandern, beflügelten. Die Erklärung der Volkskammer-Präsidentin aber löste eine Gerüchtewelle aus. Jutta Fleckenstein, eine der beiden Kuratorinnen der Ausstellung:

    "Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wandern ja sehr viele aus der ehemaligen Sowjetunion aus, Juden wie Nichtjuden. Unter den Juden entscheidet sich ein Großteil für Israel, also mehr als eine Million geht dort hin, viele entscheiden sich für Amerika, und durch die Situation in Deutschland mit der bevorstehenden Wiedervereinigung entsteht plötzlich auch der Blick auf Ost-Berlin, also man versucht von dort aus nach West-Berlin zu kommen ... "

    ... und ist damit meist auch erfolgreich. Von Januar 1991 bis Dezember 2004 können Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion als Kontingentflüchtlinge einreisen. Bis einschließlich 2004 kommen rund 200.000 nach Deutschland. Die meisten wussten nicht, was sie erwarten sollen. Deutschland hatte bei ihnen ein Image, das gleichermaßen mit seiner wirtschaftlichen Kraft wie mit seinen Gräueltaten und seiner Literatur verbunden war. Einige dieser Aspekte werden auch durch Ausstellungsexponate repräsentiert, zum Beispiel Filme oder ein Buch. Piritta Kleiner, die zweite Kuratorin:

    "Ein Objekt in der Ausstellung, das mir besonders gut gefällt, ist Leo Feuchtwanger auf Russisch, "Erfolg", wo uns die Leihgeberin erzählt hat, sie hatte das Buch schon in der Sowjetunion und wusste schon, dass sie nach München gehen wird, und hat es durchgelesen, um sich ein Bild von München zu machen. Und dann kam sie hierher und ist dann die Orte abgelaufen, die in dem Buch vorkommen."

    Etwas mehr als die Hälfte der etwa 200.000 jüdischen Zuwanderer werden Mitglieder in jüdischen Gemeinden. Ariel Kligman war einer von denen, die in München an die Tür der dortigen israelitischen Kultusgemeinde geklopft hatten. Er erzählt den Besuchern die Kurzfassung seiner Geschichte in einem Video. Unter anderem:

    "Wir sind die Leute, die keine Religion gehabt haben, die ganz andere Ansichten haben. Und das war ganz schwierig am Anfang, mindestens zu versuchen, etwas zu erklären. Ja, sie wollten uns, sie wollten uns, aber nicht uns, wie wir sind, sondern so, wie sie (sich) uns vorgestellt haben. Und da sind Welten dazwischen."

    Die jüdische Religion spielte dort, wo Ariel Kligman herkam, keine Rolle im Alltag. Aktives religiöses Leben war verboten. Gleichwohl gehörte er im Vielvölkerstaat Sowjetunion zum Volk der Juden, so stand es in seinem Pass. Heute ist er im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde von München und Oberbayern. Jutta Fleckenstein.

    "Viele der Zuwanderer haben in Deutschland das Judentum erst kennengelernt. Sie sind eingereist – vielleicht schon mit einem Gebetbuch in der Tasche, das man vom Großvater geerbt hat oder einem anderen Ritualgegenstand, aber man hat dann hier sich erst damit auseinandergesetzt."

    Fünf Videodokumentationen vermitteln einen Einblick, wie diese ersten Jahre in Deutschland erinnert und erlebt wurden. Der Raum ist ausgekleidet mit zahlreichen Statements, aber auch mit Zeitungsartikeln, die deutlich machen, dass diese neue Freiheit zunächst mit heftigen Konflikten zwischen Alteingessenen und Neuankömmlingen einher gegangen ist. Doch die Neuen hatten durchaus traditionelle Bindungen an ihr Judentum. Auch davon zeugen Erinnerungsstücke.

    "Also zum Beispiel hat eine Zuwanderin eine Teigwalze mitgebracht, ne ganz kleine Teigwalze mit der man, wenn man ungesäuertes Brot, also Mazzot, zu Pessach backen möchte, vorher den Teig auswalzen kann. Und sie hat sie von ihrem Vater geschnitzt bekommen, weil man in der Region, wo sie ihre Kindheit verbracht hat, eben keine Mazzot aus Israel oder woher auch immer bekommen konnte und die selbst backen musste, wenn man Pessach feiern wollte."

    Zu sehen ist auch eine alte dreiteilige Querflöte. Juriy Finkelberg hat sie aus der Ukraine nach München gebracht. Sein Großvater hat darauf als Klezmermusiker ostjüdische Volksmusik gespielt. Schließlich hat er das Instrument auch selbst flöten gelernt. Noch einmal Jutta Fleckenstein:

    "Die Leute hat's schon auch überzeugt, dass ihre Lebensgeschichten, die in irgendeiner Stadt in der ehemaligen Sowjetunion begonnen haben und jetzt mit München verknüpft sind, hier für die Stadtgesellschaft interessant sein könnten und dass sie auch einen Platz in einem Erinnerungsort wie dem Jüdischen Museum brauchen."