Während sie in ihrer Heimat als „Balzac des Nordens“ gilt, sind außerhalb Skandinaviens nur wenige Romane der norwegischen Autorin Amalie Skram einem größeren Publikum bekannt. Ihr 1.200 Seiten starkes vierbändiges Hauptwerk „Die Leute vom Hellemyr“, das jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt, zeigt Skrams literarische Bedeutung. Der erste Band ihres Epos öffnet den Vorhang auf das Schicksal von vier Generationen der Bauernfamilie Hellemyr bei Bergen.
„Auf den Felsen, nach dem altmodischen Längenmaß gerechnet eine halbe Meile nördlich von Bergen, lebte vor ungefähr sechzig Jahren ein Landmann namens Sjur Gabriel. Sein Hof bot ein Bild des Jammers, die Felder schienen öd und unbestellt dazuliegen, und das Haus, in dem er wohnte, war nicht größer als eine Kätnerhütte. Der Hof hieß Hellemyr, das Felsenmoor, und den Namen trug er vollkommen zu Recht. Hier gab es nur Felsbrocken und sumpfigen Boden, eingegrenzt von den schwarzen nackten Bergen und dem dunkelgrünen Meer.“
Schreibweisen des Naturalismus
Soweit, so düster. In kurzen, klaren Sätzen zeichnet Skram ein naturalistisches Portrait der Familie Hellemyr und der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie leidet. Der Fischer, Bauer und Stammhalter Sjur Gabriel, versorgt neben seiner Frau und fünf Kindern, vier Kühe, sieben Schafe und ein Schwein. Dunkelheit und Kälte, Krankheit und Todesgefahr, Gewalt und Scham prägen diese Lebenswelt.
Ein Fluch scheint auf der Sippschaft zu liegen. Sjur Gabriel hat durch das todgeborene Kind mit einer Dienstmagd Schuld auf sich geladen. Seine Ehefrau Oline ist dem Alkohol verfallen und macht als torkelnde Herumtreiberin sich und die gesamte Familie zum Gespött. Amalie Skram kannte die individuellen Dramen und sozialen Abgründe ihrer literarischen Szenarien aus ihrer eigenen Kindheit.
In ihrem beschreibenden Stil ist deswegen zugleich auch immer eine große Einfühlung spürbar. Als Oline durch die Straßen Bergens wankt, legt ihr Skram in einem Selbstgespräch den lokalen Dialekt in den Mund. Die Sprache der einfachen norwegischen Gesellschaft entfaltet ihre Wirkung dank der drei Übersetzerinnen auch in der Übertragung in einen fiktiven deutschen Dialekt.
„’Nee, wat is dat bloß schmuck und hell in all den Krambudn. All die Lüchter! Die warn ebn noch nich angezündet, dort war dat noch zu früh. – Und Latern up offener Straat! Dor künn man jo sehn, wie verschwenderisch und merkwürdich de sind hier in Süden vonne Stadt. Ach, künnt man bloß hier wohn statt im Hellemyr, dat wär schon wat anners als im Moor rumlatschen oder bi jedn Wetter, bi Regn und Wind fischen zu gehn.’“
Flucht ins Offene
Die bärbeißige Art der nordischen Bauern und Fischer zeichnet Skram ebenso ungeschminkt wie die Zerrüttung durch den Alkohol, die Gewalt in der Ehe und die Auswüchse des sozialen und ökonomischen Überlebenskampfes.
Im ebenfalls 1887 erschienenen, zweiten Band ihres Epos wechselt Skram dann Schauplatz und Genre. Aus der sozialkritischen, reportagehaften Darstellung wird ein turbulenter Seefahrtroman, der aber die Grundmotive und Figuren des Gesamtwerks fortführt. Sivert, der jüngste Enkel der Familie, will der Schande seiner verwahrlosten Großeltern entfliehen und heuert auf einem Handelsschiff Richtung Karibik an.
„Ach, die Großeltern! So weit er zurückdenken konnte, wann immer es zu Auseinandersetzungen gekommen war oder ihm jemand an den Kragen wollte, hatte er sie unter die Nase gerieben bekommen. Wie ein Schandmal waren sie unablässig über ihm gewesen. Aus ihm würde nie ein anständiger Mensch. Dass er sich selbst jetzt und hier, Tau- sende von Meilen von ihnen entfernt, derart demütigen ließ!“
Die Szenen an Bord und auch vor Ort in der britischen Kolonie sind, wenngleich literarisch dramatisiert, auch als historisches Dokument zu lesen. Mit 17 Jahren heiratete die Autorin Amalie Skram auf Wunsch ihrer Mutter einen deutlich älteren Kapitän und reiste mit ihm als vollwertiges Besatzungsmitglied nach Jamaika.
Gabe für scharfe Beobachtungen
Der Kampf gegen die vermeintliche genetische und soziale Vorbestimmung wird zum zentralen Motiv von Skrams Geschichte, die empathisches Familienepos und analytisches Gesellschaftsportrait zugleich ist. Die vier Bände verfolgen das tragische Schicksal der Hellemyrs und ihrer Zeitgenossen nicht nur auf hoher See sondern auch zwischen Straßenvolk und feiner Gesellschaft in der Stadt Bergen.
Hier öffnet Skram dann das ganz große Panorama. Mit beeindruckender Sicherheit taucht sie in verschiedenste Milieus, beschreibt Dienstboten, bibeltreue Christengruppen, Kolonisten und Kleinkrämer, Säufer, Sänger und Hafenkontoristen, Konsuln und höhere Töchter der feinen Gesellschaft. Ihr Einfühlungsvermögen und ihre scharfe Beobachtungsgabe beweist Skram in plastischen Szenen und einer kompakten, oft ironischen und immer wieder urkomischen Sprache und Figurenzeichnung.
Eine menschliche Tragik-Komödie - tatsächlich im besten Balzacschen Sinne. Mit der sorgfältig edierten deutschen Erstübersetzung von Amalie Skrams „Die Leute vom Hellemyr“ hat der Berliner Guggolz-Verlag einen literarischen Schatz geborgen. Auch in der Gegenwart hat dieser nichts von seinem Wert verloren.
Amalie Skram: „Die Leute vom Hellemyr“
Aus dem Norwegischen übersetzt von Christel Hildebrandt, Nora Pröfrock und Gabriele Haefs
Mit Nachworten von Christel Hildebrandt, Nora Pröfrock, Gabriele Haefs und Gunnar Staalesen
Guggolz Verlag
Vier Bände, 1.200 Seiten, 69 Euro.
Aus dem Norwegischen übersetzt von Christel Hildebrandt, Nora Pröfrock und Gabriele Haefs
Mit Nachworten von Christel Hildebrandt, Nora Pröfrock, Gabriele Haefs und Gunnar Staalesen
Guggolz Verlag
Vier Bände, 1.200 Seiten, 69 Euro.