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Von Kiew bis Lemberg
Wiedergeburt des Patriotismus

Ob es um die ukrainische Sprache geht oder um Kleidung von ukrainischen Designern: Die Ukrainer leben derzeit einen neuen Patriotismus. Lange stand das flächenmäßig größte Land Europas im Schatten seines großen Bruders Russland. Seit der Revolution auf dem Maidan in Kiew vor vier Jahren ist allerdings alles anders.

Von Pauline Tillmann |
    Ein Gewähr hängt an der Wand der "Pizzeria Veterano"
    In der "Pizzeria Veterano" arbeiten 14 Freiwillige und Soldaten, die im Donbass gekämpft haben (Deutschlandradio / Pauline Tillmann)
    Wenn man mit dem Taxi vom Flughafen Richtung Innenstadt fährt, fällt ein Denkmal sofort ins Auge. Mehr als 100 Meter groß, 500 Tonnen schwer, thront die Kolossalstatue aus Stahl über der Stadt. Ihr Name: "Mutter Heimat". Der Begriff Heimat ist derzeit nicht nur in Deutschland populär - auch in der Ukraine entdecken immer mehr Menschen so etwas wie eine nationale Identität.
    "Ich persönlich würde das nicht unbedingt "neuen Patriotismus" nennen. Dieser Patriotismus war schon immer da, aber die Leute fühlen sich zum ersten Mal nicht als lebendige Masse, sondern als Bürger eines vereinten Landes namens Ukraine. Sie fühlen sich vereint in der Annahme einer nationalen Idee", sagt Veronika Tschepelewa. Sie ist Direktorin eines angesagten Restaurants mitten im Herzen der Stadt. Unter dem bekannten Maidan Nezaleshnosti befindet sich ein Einkaufszentrum, ihr Restaurant hat einen eigenen Knopf im Aufzug mit den Buchstaben "OB". Das steht für "Ostannaja Barrikada" - übersetzt die "letzte Festung".

    "Es ist Mode geworden, Ukrainisch zu sprechen. Hier bei uns wird nur Ukrainisch gesprochen, wir haben nur ukrainische Musiker, nur ukrainische Künstler, nur ukrainische Schriftsteller. Der Grund: Wir sind Ukrainer, wir wollen, dass das alles wiedergeboren wird und wir hätten gerne, dass das möglichst schnell passiert."
    Für die Reporterin aus Deutschland macht Veronika Tschepelewa eine Ausnahme und spricht für kurze Zeit Russisch. Am Eingang muss man einen Spruch zitieren, den man während der Revolution auf dem Maidan oft gehört hat:
    "Dieser Spruch 'Boritis poboriti' - also kämpft, dann werdet ihr siegen - war während des letzten Maidan sehr präsent. Der Schriftsteller Taras Schewtschenko, von dem dieser Spruch stammt, ist unser bekanntester Lyriker und wir zitieren ihn oft. Sein Spruch hat für uns Ukrainer eine große Bedeutung."
    Vom Kämpfer zum Koch
    Die Direktorin ist besonders stolz darauf, dass auf dem Menü 36 Käsesorten zu finden sind, typisch ukrainischer Cognac oder auch schwarzer Kaviar. Ihr Ziel: Sie will zeigen was das ist, die Ukraine. Ein paar Schritte weiter geben Alexander und seine Freundin ihre Jacken an der Garderobe ab.
    "Wir wollen einfach einen schönen Abend verbringen - nicht mehr und nicht weniger. Wir sind oft hier, weil uns das Restaurant gefällt, die Musik ist gut und das Essen ist sehr lecker, was wohl das Entscheidendste ist. Außerdem herrscht eine bestimmte nationale Atmosphäre. Es gibt nicht so viele andere Restaurants in Kiew mit dieser speziellen nationalen Anmutung, das ist wirklich sehr besonders, deshalb kommen wir regelmäßig hierher."
    Der Eingang zum Restaurant besteht aus einer Schiebetür, auf der 100 beleuchtete Gipshände angebracht sind. Sie stehen für die 100 Menschen, die sogenannte "himmlische Hundertschaft", die während der gewaltsamen Auflösung der Proteste auf dem Maidan ums Leben gekommen sind. Dieser Pathos, die vielen Symbole sind omnipräsent. So ist es auch in der "Pizzeria Veterano", zehn Gehminuten entfernt:
    "Wodurch unterscheidet sich die Geschäftsidee? Die Betreiber haben an der Front gekämpft und machen jetzt ihr eigenes Lokal auf. Damit zeigen sie auf, dass Kämpfer auch friedlich sein können – und dass Ukrainer generell ein friedliches Volk sind."
    Am Eingang des Restaurants "Ostannaja Barrikada" erinnern 100 Hände an die Gefallenen des Maidan.
    Am Eingang des Restaurants "Ostannaja Barrikada" erinnern 100 Hände an die Gefallenen des Maidan (Deutschlandradio / Pauline Tillmann)

    An den Wänden der Pizzeria hängen Kalaschnikow und unzählige Orden. Durch die Glasscheibe des Tisches sieht man leere Patronenhülsen. Der Eigentümer sagt:
    "Wir helfen den Soldaten und Freiwilligen sich, an ihr neues Umfeld anzupassen und verschaffen ihnen eine neue Arbeit."
    Er war selber ein Jahr im Krieg und will auf die Frage, was das mit ihm gemacht hat, nicht antworten. Stattdessen verweist er lieber darauf, dass in der Pizzeria 14 Männer arbeiten und dass er darüber hinaus zwei Psychologen beschäftigt.
    "Als die ersten Männer aus dem Krieg zurückkehrten, gab es kein Programm vonseiten des Staates, um diese Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Ein Mensch, der im Krieg war, braucht Zeit, um sich wieder zu adaptieren und zu verstehen, dass er sich in friedlicher Umgebung befindet. Und er sollte seine Erfahrungen dafür nutzen anderen zu helfen und dadurch ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden. Solche Programme fehlen einfach komplett."

    Vor dem Krieg hat er als Koch gearbeitet. Nun bringt er also anderen bei wie man gute Pizzen macht. Das Restaurant ist brechend voll, an vielen Tischen sitzen Männer zusammen und grölen sich gegenseitig an. Sie sagen, sie essen lieber hier ihre Pizza als zum Beispiel bei der Kette "Celentano", weil sie damit die Soldaten und Freiwilligen im Donbass direkt oder auch indirekt unterstützen.
    Marken aus der Ukraine
    Geht man ein 200 Meter Richtung "Hotel Ukraina", vorbei am Banner "Freiheit ist unsere Religion" kommt man an die zentrale Gedenkstätte. Jeder der Gefallenen auf dem Maidan hat einen eigenen Grabstein, umrankt von Blumen und Kerzen. Viele Menschen bleiben kurz stehen und halten inne, so wie Oksana Wowtschko.
    "Ich glaube an die Worte von Taras Schewtschenko "Boritis poboriti" - kämpft und ihr werdet siegen - dieser Patriotismus von Schewtschenko und auch den unserer Männer kann man nicht unterdrücken. Im tiefsten Inneren glaube ich, dass die Ukraine wiedergeboren wird, weil es sehr viele vernünftige Menschen gibt. Leider sind wir noch nicht imstande die Korruption und die Oligarchen zu bekämpfen. Dafür brauchen wir eine neue europäische Elite."

    Oksana Wowtschko ist Lehrerin im Westen des Landes, in der Nähe von Lemberg. Sie besucht Kiew für ein paar Tage mit ihren Schülern. Auf der anderen Straßenseite verkauft ein Mann Armbändchen für umgerechnet 60 Cent. Die Bändchen sollen von Kindern geknüpft worden sein, der Erlös soll zur Armee fließen. Nachprüfen lässt sich das nicht. Die Grenze zur Folklore ist dünn. Die letzte Station des patriotischen Streifzugs durch Kiew führt uns zu einem Kleiderladen auf der Prachtmeile Kreschatyk. Außen prangt das Schild "Bsi. Wsoi", übersetzt "Alles. Eigene."
    Alle Marken stammen aus der Ukraine, auch wenn "Kasandra", "Babai", "Desali" und "Galore" nicht unbedingt darauf schließen lassen würden. Die Kleider erinnern an Boutiquen in Berlin, Paris oder Wien.
    Die typische Tracht, die "Vishe Vanka" 
    Die typische Tracht, die "Vishe Vanka" sieht man im Stadtbild von Kiew immer öfter. (Deutschlandradio / Pauline Tillmann )
    "Ich mag diesen Laden sehr, weil es dort sehr viele ukrainische Designer gibt und man genau seinen Stil auswählen kann."
    "Der Ort ist einfach gut - und auch die Idee dahinter ist gut."
    "Die Kolossalstatue aus Stahl am Fuße der Stadt namens "Mutter Heimat" wurde im Übrigen nicht zum Wohle der Ukraine errichtet, sondern im Gedenken an den Sieg der sowjetischen Streitkräfte während des Zweiten Weltkrieges. Doch Russland ist inzwischen Feind Nummer eins. Die Abwendung vom sowjetischen Erbe ist überall spürbar – die Ukrainer suchen den Schulterschluss mit Europa. Die Frage ist, ob Europa bereit ist für eine immer patriotisch werdende Ukraine."