Russlands siegreiche „Spezial-Operation“ gegen die Ukraine, Chinas weltbester Umgang mit Covid-19, der Riesenerfolg des Brexit, gestohlene Wahlen in den USA, Wandel durch Handel – die krassesten politischen Lügen kleiden sich in groß angelegte Erzählungen. Alles hat heute eine Narrativ – nur die Literatur hat keins mehr. Dokumentationen, Autobiografien, Recherchen tarnen sich als Romane. Wer will noch fiktional erzählen, wenn er sich mit Aluhutträgern, Verschwörungsidioten oder Reichsbürgern gemein macht? In Russland und China demonstrieren Todesmutige mit unbeschriebenen Blättern: Taugt gegen die grotesken Fiktionen nur noch das Anti-Narrativ der Leere?
Wissenschaftlich recherchieren – literarisch schreiben kennzeichnet sowohl Angela Steideles Biografien (In Männerkleidern über Catharina Linck 2004, neu 2021; Geschichte einer Liebe über Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens 2010; Anne Lister 2017), als auch ihr essayistisches Werk (Zeitreisen 2018; Poetik der Biographie 2019) und nicht zuletzt ihre Romane (Rosenstengel 2015, Aufklärung 2022). Die Autorin, geboren 1968, wurde u.a. mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet.
Vor knapp einem Jahr, Mitte März 2022, hielt in Nischni Nowgorod eine Frau in der Öffentlichkeit ein weißes Blatt Papier hoch. Drei Wochen zuvor war Russland in die Ukraine einmarschiert. Ihre Hoffnung, auf unangreifbare Weise demonstriert zu haben, ging nicht auf. Die Frau wurde von den russischen Sicherheitskräften sofort abgeführt. Ende November 2022 sah man auch in China bei Demonstrationen in mehreren Städten leere Blätter. Bei einem Wohnungsbrand im uigurischen Ürümqi waren mindestens zwölf Menschen umgekommen, weil sie wegen der strikten Covid-19-Politik der Kommunistischen Partei Chinas in ihrem Haus eingesperrt worden waren und die Feuerwehr nicht nah genug heranfahren durfte. Auch in China kassierte die Polizei die weißen Blätter sofort. Was lasen die Sicherheitskräfte, was dort gar nicht geschrieben stand?
Die Wahrheit stirbt zuerst, heißt es in jedem Krieg; mittlerweile wissen wir – auch in einer Pandemie ist das so, wenn sie in einer Diktatur ausbricht. Die Wahrheit selbst ist heute zum Schlachtfeld geworden. „Alternative Fakten“? „Postfaktisches Zeitalter“? Längst ist einem das Lachen über solch widersinnige Gedankenfiguren im Halse steckengeblieben.
Fakten werden derzeit am Griffigsten in sogenannten ‚Narrativen‘ fiktionalisiert. Kein Modewort der letzten Jahre hat eine steilere Karriere hingelegt. Das Wort ‚Narrativ‘ leitet sich von Lateinisch narrare ab, erzählen, stammt jedoch – Überraschung! – nicht aus der Erzähltheorie, sondern aus den Sozialwissenschaften: ein Narrativ ist eine Erzählung, die eine Gruppe, eine Bewegung, eine Partei eint; das Narrativ ergreift Herz und Hirn seiner Anhänger und schwört sie stark emotionalisiert auf eine Denkordnung ein. Narrative bedingen einen Erzähler. Damit steht die Frage der Perspektive im Raum. Wer erzählt? Diktaturen wie in China und Russland, aber auch wie in Myanmar, Iran oder Nordkorea verstehen ihre Narrative totalitär: Die Polizei, die Geheimdienste und die Armee sorgen dafür, dass alle dort dasselbe erzählen. Doch auf den leeren Blättern der mutigen Demonstrierenden stand nicht zu lesen, dass Russland die Ukraine, die es ohnehin nicht gebe, in einer militärischen Spezialoperation von den Nationalsozialisten befreie. Oder dass die chinesische Regierung weltweit am besten mit der Seuche umgegangen ist. Wladimir Putins und Xi Jinpings Diktat blieb auf den weißen Papieren demonstrativ ungeschrieben.
Autokratien unterdrücken stets Widerspruch und unliebsame Wahrheiten. Anders könnte sich die herrschende Clique nicht halten. Auch in Demokratien wird gelogen. Bei uns können Lügner allerdings enttarnt, verlacht und entlassen oder abgewählt werden. Doch hierzulande greifen ebenfalls politische Narrative um sich, die Fakten absichtlich verzerren oder gleich ganz leugnen. Ich sehe darin viel eher eine Zeitenwende als in dem Überfall Russlands auf die Ukraine, wie unser Kanzler meint. Putin und sein Regime bedrängen schließlich schon seit langem demokratische Kräfte auch in Tschetschenien, Abchasien, Inguschetien, Ossetien, Transnistrien und Georgien, von der Gewalt gegen die nicht-putintreue russische Bevölkerung ganz zu schweigen.
Eine fast schon vergessene, dabei bis heute nachwirkende Zeitenwende war die Wahl Barack Obamas. 2009 wurde erstmals ein US-Präsident mit dunkler Hautfarbe vereidigt. Eine quälend lange Emanzipationsbewegung feierte einen glücklichen Triumph. Zugleich markierte Obamas Präsidentschaft einen Wendepunkt, nämlich die Geburtsstunde der Tea-Party-Bewegung unter den Republikanern. Rassistische, bewaffnete, zumeist weiße, evangelikale Anhänger der Republikaner entfernten sich sukzessive von der Demokratie. Sie stellten 2016 einen Donald Trump auf, unterstützten ihn in seiner katastrophalen Präsidentschaft, und folgen bis heute seinen Narrativen, er sei um seine Wiederwahl 2020 betrogen worden und der Sturm aufs Capitol 2021 sei kein versuchter Staatsstreich gewesen.
Die antidemokratische Entwicklung der Republikaner in den USA ist deshalb so bedeutsam, weil weltweit sehr viele konservative Parteien ihrem Beispiel folgen. Die Tories etwa sehnen sich nach dem kolonialen britischen Empire zurück und haben Großbritannien dadurch ins tiefste Elend gestürzt. Dennoch bejubeln sie wider alle Fakten ihr Narrativ, der Brexit sei das Beste gewesen, was je hätte geschehen können.
In Deutschland entzündete sich die Veränderung im rechten Parteienspektrum nicht an der Hautfarbe des Präsidenten, sondern am Geschlecht der Kanzlerin: Während Angela Merkels Regierung rückten Teile der Union, wie die CSU in Bayern, weiter nach rechts; Hans-Georg Maaßen und seine „Werte“-Union verhöhnen alle Werte unseres Grundgesetzes. Und enttäuschte Reaktionäre wie Alexander Gauland verließen die CDU ganz und machten die AfD erst groß – eine Partei, die ausschließlich von kontrafaktischen Narrativen lebt.
Wissenschaftliche Erkenntnisse bestreiten, Wahlkommissionen misstrauen, wenn das Ergebnis zu den eigenen Ungunsten ausfällt, historische, wirtschaftliche oder statistische Daten bezweifeln – solche fälschenden Einsprüche kommen heute alle von rechts. Reaktionäre, patriarchale, rassistische, anti-feministische und homophobe, ja faschistische und völkische Narrative wollen rückgängig machen, was die Emanzipationsbewegungen seit den 1970er Jahren errungen haben. Der klassischen Linken ist 1989 ihr Narrativ verloren gegangen. Die verbliebenen demokratischen Kräfte und Parteien eint, bei aller Unterschiedlichkeit, ein Grundrespekt vor den Wissenschaften, eine gewisse intellektuelle Redlichkeit und die Opposition zu Narrativen. Wo auch sie restaurativ einwirken wollen, lügen sie jedoch ebenfalls erbärmlich. Jeder weiß, welchen enormen ökologischen Nutzen ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen hätte – nur die FDP behauptet das Gegenteil.
Radikalisieren sich die Konservativen, verlassen sie unsere gemeinsame Wertegrundlage und höhlen unsere Demokratien aus, die schließlich vom Kompromiss zwischen widerstreitenden Kräften in der Gesellschaft leben. Erst diese Zeitenwende, die Destabilisierung der Demokratien weltweit, hat Putin und seine Helfer glauben gemacht, die Stunde zum erfolgreichen Angriff auch in Mitteleuropa sei da.
Narrative vertragen sich nicht mit einer freien, unabhängigen Presse. In Russland und China müssen die verstaatlichten Medien die Propaganda der Regierung herunterbeten. In den USA haben die Rechtskonservativen mit den Fox News ihren eigenen Nachrichtenkanal für ‚alternative‘, also erfundene Fakten geschaffen, in Polen ist die PiS-Partei auf gutem Weg, die Medien gleichzuschalten, in Ungarn hat es Viktor Orbán schon geschafft. Die Tories wollen der BBC an den Kragen, und richtig, wer wehrt sich bei uns gegen den gebührenfinanzierten kritischen Rundfunk?
In den demokratischen Staaten lieben die rechtsnationalen Parteien und Bewegungen daher nichts mehr als die sozialen Medien. Denn Facebook, Twitter und Co bieten ihnen die ideale Plattform für ihre Narrative, die sie einem breiten Publikum vermitteln können, ohne von einer skeptischen Redaktion vor der Veröffentlichung auf Fakten gecheckt zu werden. Verantwortliche im Sinne des Presserechts können in den klassischen Medien für Beleidigungen oder Volksverhetzung belangt werden. Die nahezu rechtsfreien Räume in den sozialen Medien dagegen hallen wider von Schmähungen aller Art. Um nach dem Aufstieg der Narrative zu fragen, möchte ich daher neben der Tea-Party-Bewegung in den USA das Jahr 2004 hervorheben, in dem Facebook zuerst auftrat, bald gefolgt von Twitter, schließlich Instagram, Telegram und TikTok.
Keine rückwärtige Verklärung: Geschimpft, gestänkert, beleidigt wurde schon immer. In der analogen Welt war es jedoch viel schwieriger, Kumpane für gedanklichen Mist zu finden. Familie, Freunde, Kolleginnen, Vereinsmitglieder wirkten alle en passant mit ihrem gesunden Menschenverstand mildernd auf blödsinnige oder aggressive Vorstellungen von einzelnen Mitgliedern unserer Gesellschaft ein. Über die sozialen Medien finden diese Einzelnen heute leichter Gleichgesinnte, fühlen sich nicht länger allein und koppeln sich gemeinsam von der moderaten Mehrheitsbevölkerung ab. Über Telegram spinnen etwa die rechtsextremen Anhänger von QAnon ihr Narrativ, wonach die Demokratische Partei in den USA in Wahrheit ein Kinderschänderring sei, der unmerklich geputscht und die Macht in einem „deep state“ heimlich an sich gerissen habe. Die deutsche Variante von QAnon sind die rechtsextremen Reichsbürger, die sich ebenfalls einbilden, im falschen Staat zu leben und zu Gewalt bereit sind.
Diktatoren dagegen twittern nicht; um ihre Narrative zu verbreiten, haben sie ja die klassischen und digitalen Medien in ihren Ländern gleichgeschaltet. Dennoch mischen auch sie sich kräftig in die digitale Kommunikation der liberalen Staaten ein: Russland und China führen in den sozialen Medien mittels social bots und gefälschter redaktioneller Beiträge gewaltige Desinformationskampagnen, die das Vertrauen bei uns in die klassische freie Presse unterwandern soll. Die Digitalisierung der Medien hat also das kontrafaktische Erzählen geradezu entfesselt.
Weiße Blätter gehören zu den Arbeitsmaterialien von Schriftsteller:innen. Zuweilen werden sie noch von Hand beschrieben, meist werden sie in den Drucker geschoben. Anders als in Nischni Nowgorod und Ürümqi soll was drauf zu lesen sein. Aber was? Während die ganze Welt von Narrativen widerhallt, beschwört ausgerechnet die schöne Literatur die Wirklichkeit. So viele erzählen heute das Blaue vom Himmel herunter, nur die Schriftstellerinnen und Autoren nicht. Die FIFA hat ein Narrativ, das Olympische Komitee, der ADAC – nur die Literatur hat keines. Da, wo Erzählen, Erfinden und Fabulieren mal zu Hause waren, wird recherchiert, gezählt, gewogen und analysiert.
Die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch interviewte Russinnen, die als Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg gedient haben, sprach mit den Müttern von in Afghanistan gefallenen russischen Soldaten und befragte Überlebende der Atomkatastrophe von Tschernobyl. Aus diesen Zeitzeugenberichten collagiert sie in ihrem ureigensten literarischen Verfahren Romane als vielstimmige Dokufiktionen. Annie Erneaux, die letztjährige Literaturnobelpreisträgerin, nimmt dagegen ihr eigenes Leben zum Ausgangspunkt für sozialwissenschaftliche Fragestellungen. Auch Didier Eribon, Kim de l’Horizon und zahlreiche andere Autorinnen verbinden Autobiographie, Recherche und gesellschaftliche Analysen und haben mit ihren Autofiktionen großen Erfolg bei den Literaturjurys wie beim Publikum.
Ausgerechnet die schöne Literatur pocht also heute auf die Wirklichkeit in einem dokumentarischen, beglaubigenden Sinn. Sie tut das nicht zum ersten Mal. Dokumentarliteratur war auch schon früher en vogue, erinnert sei nur an Erika Runges Bottroper Protokolle von 1968 oder an Irina Liebmanns Berliner Mietshaus von 1982. Und offen autobiographische Romane boomten zuletzt in den 1970er Jahren. Die Bibel der Frauenbewegung, Häutungen (1975) von Verena Stefan, verkaufte sich 500.000 mal. Diese letzte Welle dokumentarisch und autobiographisch geprägter Prosa wurde dann vom männlich dominierten Feuilleton als „Betroffenheitsliteratur“ jahrzehntelang abgekanzelt – bis Männer wie Karl Ove Knausgård ihre Lebensbeichten vortrugen.
Literarisches Erzählen und Erfinden hatte und hat freilich stets einen starken Bezug zur Wirklichkeit, und zwar auch in rein fiktionalen Texten. Man könnte sogar sagen, keine Kunst verspürt mehr Hunger nach Wirklichkeit als die Literatur. Menschen mit ihren Körpern, Erfahrungen, Hoffnungen, Zweifeln, Ängsten und Konflikten sind ihr Stoff; quasi alles in der Literatur entstammt der Wirklichkeit; die fiktiven Zutaten sind in jedem Roman überaus gering: Jeder erfundene Handlungsablauf, jede fiktive Figur besteht aus lauter für die Leser wiedererkennbaren Wirklichkeiten. Phantastische, unwirkliche Elemente (etwa Science Fiction oder Magischer Realismus) wirken nur, weil sie in lauter erkennbare Wirklichkeiten eingebettet werden. Abstrakte Texte wie die von Kurt Schwitters oder Gertrude Stein sind Randerscheinungen, die die Grenze markieren.
Literatur ist deshalb so wirklichkeitsvoll, weil sie gestaltete Sprache ist. Sie benutzt also genau das Ausdrucksmittel, mit dem wir auch unser Alltagsleben meistern: ob wir Gebrauchsanweisungen befolgen, Fahrkarten lösen, twittern und posten, oder Radioessays zuhören. Literarische, non-fiktionale und Alltagsrede sind daher nicht grundsätzlich voneinander geschieden (im Sinne von Dichtung oder Wahrheit), sondern nur qualitativ: mehr oder weniger rhetorisch durchgearbeitet und zielgerichtet gestaltet.
Daher ist es auch gar nicht so ausgemacht, ob die auto- oder dokufiktionalen Texte der Gegenwartsprosa weniger fabulieren als Romane mit erfundener Handlung und Figuren ohne erkennbares Vorbild.
Seitdem Sappho in der abendländischen Literatur 600 vor Christus zum ersten Mal „Ich“ gesagt hat, müssen wir die Erzählerin eines Gedichtes von der tatsächlichen Autorin unterscheiden. Auch in der Prosa stimmt das Ich des Erzählers nicht mit dem Ich des Autors überein, wie Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus oder Oskar Matzerath in der Blechtrommel von Günter Grass deutlich machen. Tatsächlich muss Literatur einen erheblichen rhetorischen Aufwand betreiben, will sie so authentisch wie möglich wirken und Autor und Erzähler in eins fallen lassen. Die Bekenntnisse sowohl von Augustinus aus der Spätantike wie von Rousseau in der Aufklärung sind hoch artifizielle Sprachgebilde, die rhetorisch versiert glauben machen, wir bekämen schonungslose Selbstanalysen zu lesen.
Die Forschung hat längst aufgedröselt, was Augustinus und Rousseau alles weggelassen und hinzugedichtet und wie trickreich sie ihr theoretisches Programm verkleidet haben. Ein nicht minder aufschlussreiches Verfahren wählte Bettine von Arnim in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Figuren in ihren Romanen tragen alle Klarnamen: Die Günderode zeichnet die Geschichte ihrer Freundschaft zu der Dichterin nach, Clemens Brentanos Frühlingskranz beschreibt die gemeinsame Jugend mit ihrem Bruder, und Goethes Briefwechsel mit einem Kindehandelt von Goethe und ihr selbst – allerdings war sie zu der Zeit ihrer Bekanntschaft mit ihm gar kein Kind mehr, und den Briefwechsel hat es so nie gegeben. Schon die entrüsteten Zeitgenossen und erst recht die Literaturwissenschaft bemerkte irritiert, dass Arnim Erinnerungen, Wünsche, Dichtung und Wahrheit zu einem unauflösbaren Knäuel verdichtet hat. Sie lügt ja, hieß es bis vor Kurzem empört! Nein, sie ist die wahre Mutter der Autofiktion, rufe ich begeistert zurück.
Felicitas Hoppe machte in ihrem Roman Hoppe 2012 genau da weiter, wo Bettine von Arnim aufgehört hat und dachte sich ihre eigene fiktive – oder doch nicht ganz fiktive? – Lebensgeschichte aus. Und Thomas Glavinic gab 2007 einem Roman über sich selbst den Titel Das bin doch nicht ich. Wieviel schonungslose Lebensbeichte steckt also überhaupt in autofiktionalen Texten? Ist die Selbstentblößung nur eine Masche? Fast hätte ich Narrativ gesagt.
Das Ich in einem Text ist immer schon verfremdet, weil es zwei Medien braucht, um sich dem Publikum mitzuteilen: Sprache und Schrift schalten sich zwischen Erleben und Darstellen und geben das textuelle Ich grundsätzlich medial verändert wieder. Was etwa gleichzeitig erlebt, getan und durchdacht wurde, muss dennoch nacheinander erzählt werden. Jeder mündliche oder schriftliche Bericht braucht Zeit, eine Abfolge von Sekunden, Minuten oder Stunden, um dargeboten zu werden, aber auch erfasst, gehört oder gelesen. Schon diese Linearität widerspricht unserem authentischen Leben, in dem wir doch stets gleichzeitig verliebt sind, Hunger haben, uns um die Ukraine sorgen, dringend einen Arzttermin vereinbaren und diese blöde Versicherung kündigen müssen, während wir einen Essay schreiben. Ach, und der Hund muss auch raus. (Übrigens, ich habe gar keinen Hund.)
Neben Sprache und Schrift gestalten in den Sozialen Medien vornehmlich Bilder die Erzählung. Um hier Authentisches zu fingieren, braucht es fundierte Kenntnisse in Bild- und Textrhetorik. Das wissen alle, die in den Sozialen Medien vorgeben, ihr Leben mit anderen zu teilen. Mehrheitlich huldigt man in den Ich-Darstellungen im Netz noch dem alten Kunstbegriff, der um die Schönheit kreiste: gestylte Frisuren, perfekt geschminkte Lippen und erotisch ausgeleuchtete Körper. Auch der Bildhintergrund, das Bühnenbild also, der Bildausschnitt und so weiter werden bedacht, um die Botschaft vom perfekten Heim, einer glücklichen Familie oder der süßesten Katze der Welt zu senden. Kein Medium dürfte unauthentischer sein: Wirklichkeit erscheint in den sozialen Medien grundsätzlich inszeniert, fingiert, ja, fiktiv.
Bekommen wir denn aber die Wirklichkeit je zu fassen? Was haben wir denn all diesen Narrativen entgegenzusetzen, den großen politischen und den kleinen, eitlen? Eine Lüge ist oft leicht aufzudecken; die Wahrheit dagegen ist ein ganz anderes Kaliber. Das fängt schon mit den Fakten an. Die Etymologie benennt das Problem: Nochmals Latein: facere, tun, machen. Das Partizip ‚Faktum‘ ist also ein Gemachtes. Es ist nicht gegeben, es wird nicht gefunden oder erfunden, es wird gemacht. Fakten haben daher schon rein begrifflich etwas Prozessuales in sich, ein Werden, nicht ein Sein. Liegt deshalb der Gedanke nahe, Fakten könnten auch anders gemacht worden sein? Zudem setzt der Logik nach jedes Faktum einen Macher voraus. Bringen eine oder mehrere Ursachen ein Faktum hervor? Oder werden die Fakten erst durch uns erzeugt, die Betrachterinnen? Sollten selbst gemachte Fakten die Bausteine unserer Wirklichkeit sein?
Flankiert werden solche Fragen von Erkenntnissen der Hirnforschung: Neuronal sehen wir nicht, was ist, sondern was unser Gehirn aus Sinnesreizen macht. Um die Wirklichkeiten um uns herum zu begreifen, müssen wir sie wahrnehmend konstruieren. Wir machen uns also buchstäblich ein Bild von allem, auch den Fakten. Nietzsche wusste das auch schon ohne Neurophysiologie; er schreibt: „nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen.“
Wirklichkeit ist nicht, sie wird neuronal, sprachlich, medial, technisch und sozial konstruiert, einschließlich der Wahrnehmung unserer Selbst. Und je nach Konstrukteurin, ihrem Ort und Geschlecht, ihrer Identität und Generation und so weiter sieht sie auch ein bisschen anders aus. 150 Jahre nach Nietzsche ergänzt der Erzähltheoretiker Thomas Strässle, dass er und sein Fach immer noch nicht herausgefunden haben, „worin sich genau eine faktuale von einer fiktionalen Erzählung unterscheidet“, und – „ob es diesen Unterschied überhaupt gibt“.
Erzählen wir uns also alle unablässig lauter Geschichten, und lässt sich ein Narrativ gar nicht von einer Analyse unterscheiden? Spekuliert nicht auch die Wissenschaft und deckt nie ‚die‘ Wahrheit auf, sondern prüft und zweifelt, versucht und verwirft, entkräftet alte Thesen und stellt neue auf?
Auch und gerade Wissenschaft ist ein Prozess: Einstmals gut begründete Einsichten werden von neuen Erkenntnissen frisch justiert, fortentwickelt, zuweilen sogar abgelöst. Denn jede Erkenntnis führt nicht zu absoluter Wahrheit, sondern zu neuen, noch besser begründeten Einsichten. Nicht anders stellen sich die Bedingungen für unser politisches Erkenntnisvermögen dar. Vorausgesetzt, wir leben in Freiheit und Frieden, können wir gemeinschaftlich und dynamisch um Plausibilität ringen. Freundlicher Zweifel, heitere Skepsis, sachlich begründeter Widerspruch, offen und höflich ausgetragen, ordnen im Miteinander die Fülle der Fakten zu einer Wirklichkeit, die dem, was geschehen ist und gerade geschieht, erstaunlich ähnlich sieht.
Die Erfinder grotesker Narrative kennen die Wirklichkeit genau und wollen sie gerade deshalb in ihrem Sinne verändern.
Weiße, leere Blätter aus Papier sind nichts als materielle Träger eines poteztiellen Inhalts, der in Sprache, Schrift oder Bild erst noch darauf platziert werden müsste. Da die russischen und chinesischen Sicherheitskräfte ihre Staatsnarrative ebenfalls nicht glauben, wussten sie ganz genau, was auf den weißen Blättern der mutigen Demonstrierenden nicht geschrieben stand: Varianten der Wahrheit, die näher an die Wirklichkeit reichten als die Propaganda ihrer Regierungen. Vor einer Frau in Nischni Nowgorod, die zeigt, dass sie die Wahrheit kennt, hat Putin keine Angst. Der chinesischen Regierung hingegen wurden nach der Tragödie in Ürümqi auf landesweiten Demonstrationen in Dutzenden Städten zigtausendmal ein weißes Blatt vorgezeigt. „Wir haben etwas anderes zu sagen, dürfen aber nicht!“, schienen die Demonstrierenden ausdrücken zu wollen. Das Narrativ von der weltbesten Covid‑Strategie brach in sich zusammen. Und wie zum Zeichen, dass die Kommunistische Partei ihren eigenen Märchen auch nie geglaubt hatte, hob sie in einer aberwitzigen Kehrtwende alle Corona-Maßnahmen auf einen Schlag auf. Dass daraufhin die Krematorien rund um die Uhr Leichen verbrennen mussten, wurde kontrafaktisch als Lüge des Westens bezeichnet; eine Diktatur bleibt sich treu, auch wenn sie erfolgreich kritisiert wird.
Dennoch haben weiße leere Blätter in ihrer nicht zu übertreffenden Lakonie ein milliardenfach beschworenes Narrativ zum Schweigen gebracht. Die grotesken Fiktionen liefen buchstäblich ins Leere.
Ein weißes Blatt birgt eben immer die Möglichkeit einer neuen, anderen Geschichte. Das Erzählen ist noch lange nicht am Ende.