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Von Lucke über die GroKo
"Fast anarchischer Zustand der Führungslosigkeit"

Es bestehe ein Vakuum an der Spitze beider Volksparteien, sagte der Politologe Albrecht von Lucke im Dlf. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer habe weder inner- noch außerhalb ihrer Partei Autorität. Die Lage der SPD nannte er "heillos".

Albrecht von Lucke im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
Vor Beginn des Treffens des Koalitionsauschusses von CDU/CSU und SPD ein Blick auf den Balkon im Bundeskanzleramt. Zu sehen sind Ralph Brinkhaus (l-r), Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alexander Dobrindt, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Helge Braun (CDU), Kanzleramtsminister, Angela Merkel (CDU), Bundeskanzlerin, Annegret Kramp-Karrenbauer, Bundesvorsitzende der CDU, Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Manuela Schwesig (SPD), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Thorsten Schäfer-Gümbel, Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion in Hessen, und Olaf Scholz (SPD), Bundesminister der Finanzen.
Vor Beginn des Treffens des Koalitionsauschusses im Juni 2019. Der Publizist und Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke sieht "völlig blanke" Nerven in der Großen Koalition. (dpa / Gregor Fischer / dpa-Bildfunk )
Tobias Armbrüster: Die Große Koalition zeigt sich in diesen Tagen wieder einmal von ihrer nervösen Seite. Bei CDU und SPD liegen die Nerven blank. Das hat sich am Wochenende gezeigt. In den Parteien wird nämlich vor allem gestritten: bei der SPD über die schwierige Kandidatensuche, in der Union vor allem über Hans-Georg Maaßen und die Frage, ob er tatsächlich in die CDU gehört. Gestern Abend dann der Koalitionsgipfel im Kanzleramt. Aber einigend hat auch der nicht gewirkt.
Am Telefon hier bei uns im Deutschlandfunk ist jetzt der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. Er ist Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik. Schönen guten Tag, Herr von Lucke.
Albrecht von Lucke: Guten Tag, Herr Armbrüster!
Armbrüster: Herr von Lucke, wie blank liegen die Nerven gerade in der Großen Koalition?
von Lucke: Sie liegen völlig blank. Und man kann es fast noch drastischer formulieren: Wir erleben ein absolutes politstrategisches Vakuum auf beiden Seiten. Das was Annegret Kramp-Karrenbauer am Wochenende gelungen ist - in Anführungszeichen und ironisch unterstrichen -, ist gewissermaßen die Züchtung eines Sarrazins in den Reihen der CDU. Indem sie nicht - und das hätte politisch so auf der Hand gelegen - einem Ausschlussverfahren eine klare Absage erteilt hat, hat sie gewissermaßen dem Provokateur Hans-Georg Maaßen voll in die Hände gespielt. Sie hat damit auch die Partei gespalten, obwohl sie gerade die Konservativen eigentlich konsolidieren wollte. Sie hat jetzt gewissermaßen die gesamte Werteunion gegen sich.
Und auf der Seite der SPD erleben wir ohnehin eine absurde Situation: eine Partei ohne eine jegliche strategische Führung. Die kommissarische Führung ist gewissermaßen Sinnbild eines Vakuums an der Spitze. Und meine These wäre: Die Kandidatur von Olaf Scholz wird die Partei nicht einen. Im Gegenteil: Sie wird sie weiter spalten und wir werden Ende Oktober erleben, dass wir es mit einem heillosen Ergebnis der Parteivorsitzenden zu tun haben, bei dem gar nicht deutlich ist, wer überhaupt die Führung dieser Partei innehat.
"Maaßen hat eine Parteivorsitzende bereits auf dem Kerbholz"
Armbrüster: Dann lassen Sie uns noch mal ganz kurz bei Frau Kramp-Karrenbauer bleiben und dann gleich auf die SPD kommen. AKK hat am Wochenende dieses nicht ganz eindeutige Interview gegeben zu Hans-Georg Maaßen und da eine Frage beantwortet. Kann man nicht einfach sagen, da hat sie sich möglicherweise etwas unklar ausgedrückt, und die nachrichtenarme Zeit am Wochenende hat daraus dann die Nachricht gestrickt, sie ist für einen Parteiausschluss von Hans-Georg Maaßen?
von Lucke: Es wäre schön, sage ich wirklich - und ich meine es ernst -, wenn es so wäre. Aber wir müssen uns bewusst machen, worum es geht. Es handelt sich um ein schriftliches Interview. In diesem schriftlichen Interview, das normalerweise natürlich geeignet ist, aufs Genaueste gelesen zu werden, vor allem vor dem Hintergrund, dass es ja nicht das erste Mal ist, dass AKK sich in ihren Antworten gewaltig vertan hat. Sie hat gewissermaßen eine zweite Chance erhalten, indem sie ins Verteidigungsministerium gegangen ist. Alle haben darauf gewartet, dass sie jetzt auch im Parteivorsitz sicher Tritt fasst. Und was macht sie? - Sie ist nicht in der Lage - und übrigens ihre ganze Beraterszene nicht - zu erkennen, dass eine Frage, die dahin geht, wie der Umgang mit Herrn Maaßen ist, dass sie nicht in der Lage ist zu erkennen, dass nur die klare Absage an einen Parteiausschluss geeignet ist, die Lager zu beruhigen.
Hans-Georg Maaßen und Annegret Kramp-Karrenbauer nebeneinander im Halbprofil
Streit in der CDU: Ex-Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen und die Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer (imago/fotomontage dlf)
Was ist die Konsequenz? - Sie hätte lernen müssen, dass es in dieser Sache von der SPD zu lernen heißt, verlieren lernen. Die SPD hat über Jahre mit Sarrazin sich einen Querulanten quasi herangezogen. Das Gleiche passiert jetzt in der CDU mit Herrn Maaßen, der sich bereits jetzt freut, als politischer Aktivist aufzutreten. Denn das Schwert, das Frau Kramp-Karrenbauer damit zumindest angedeutet hat, das des Parteiausschlusses, ist so stumpf, dass sie es nicht ziehen kann. Es geht über Jahre, und genau darauf warten Provokateure vom Schlage Hans-Georg Maaßens und Sarrazins. Jetzt sind sie permanent in der Lage, den Tabubruch in der CDU zu betreiben, und das hätte - und das ist so das große Dilemma -, das hätte eine Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer, die ja nun mittlerweile nicht erst einen Tag im Amt ist, die sich lange mit der Causa Maaßen beschäftigen konnte, die auch wusste, welches Desaster Sarrazin hervorgerufen hat, das hätte sie wissen müssen. Sie hätte genau sagen müssen: Nein, wir ringen um eine politische Lösung. Es geht nicht um ein Ausschlussverfahren.
Armbrüster: Was sind die Folgen von diesem Ausrutscher?
von Lucke: Die sind desaströs! Ich würde sagen, um es zuzuspitzen: Hans-Georg Maaßen hat eine Parteivorsitzende bereits auf dem Kerbholz. Das ist Andrea Nahles. Der Fehler in der Causa Maaßen war letztlich der Ausgang des Autoritätsverlustes von Andrea Nahles. Der hat ihr letztlich den Kopf gekostet. Sie hat sich nie von dieser Schlappe erholt. Am Schluss war der Rücktritt die notwendige Konsequenz.
Armbrüster: Weil sie damals nicht bei diesem einen entscheidenden Termin im Kanzleramt gesagt hat, Hans-Georg Maaßen muss gehen?
von Lucke: Er muss gehen! Und vor allem: Er muss nicht nach oben befördert werden. Wenn wir uns erinnern: Er ist nach oben zum Staatssekretär befördert worden, und der einzige Staatssekretär der SPD musste sogar gehen. Das war ein kategorischer kardinaler Fehler.
Jetzt geht es natürlich nicht um den Parteivorsitz. Ich würde nicht sagen, dass Annegret Kramp-Karrenbauer Sorge haben muss, dass sie von heute auf morgen den Parteivorsitz verliert. Aber worum es geht, ist natürlich die Kanzlerkandidatur. Wir haben ob des Vakuums in SPD und CDU eine Nähe von Neuwahlen, die natürlich unbedingt die Frage aufwerfen, wer ist trittsicher, wer hat die Autorität, und Annegret Kramp-Karrenbauer hat schon in den letzten Wochen in den Umfragen massiv an Sympathie verloren. Sie hat weder Autorität in der Partei, noch außerhalb der Partei, also bei der Wählerschaft, und die Gegner in ihren Reihen, die ja nun wahrlich schon mit den Hufen scharren, haben natürlich auf einen solchen Ausrutscher nur gewartet. Das heißt: Die Leute, die jetzt bereits Front machen, also die Werteunion, die sich bereits mit Herrn Maaßen solidarisiert, werden alles tun, damit die nächste Kanzlerkandidatin nicht Annegret Kramp-Karrenbauer heißt, sondern in ihrem Sinne im besten Falle Friedrich Merz, oder vielleicht dann doch Armin Laschet, der das Ganze sicherlich auch mit großer Gelassenheit beobachtet.
"Die Verlierer sind SPD und CDU"
Armbrüster: Dann lassen Sie uns kurz auf die SPD blicken, den anderen Koalitionspartner. Auch da gibt es gerade Streit, wir haben es gehört. Es geht um die Kandidatensuche, um die Frage, wer die Partei künftig leiten soll. Das dauert jetzt schon einige Zeit. Wir haben jede Menge Kandidaten gesehen und jetzt hat sich am Wochenende Stephan Weil gemeldet, der das ganze Verfahren kritisiert. Was genau ist das Problem? Da ist ein Amt frei in der Partei, viele melden sich, die es machen wollen. Warum gibt es dann trotzdem Streit?
von Lucke: Es gibt einen ungeheuren Streit ob der Tatsache, dass in der Kandidatennominierung - wir müssen uns bewusst machen: die Entscheidung fiel Anfang Juli. Wir haben bereits fast zwei Monate ins Land gehen sehen, ohne dass sich nennenswerte starke Kandidaten gemeldet haben. Allein das hat ja bereits gezeigt, dass die Angst davor, diesen Posten, der so strategisch von Bedeutung ist, der entscheidend ist für die Zukunft der SPD, überhaupt in Angriff zu nehmen, dass die Angst so immens ist, dass keiner es sich traute.
Dann haben wir erlebt, dass eigentlich letztlich nur noch Parteilinke die Traute hatten zu sagen, wir gehen in die Bütt. Aber damit war es verbunden mit der Aussage, wir gehen sofort in die Opposition. Das war gewissermaßen gekoppelt an die Frage, ist die Große Koalition am Ende.
Dann kam - und das macht es so interessant - endlich ein vernünftiges, auch pragmatisch-realpolitisches Angebot, nämlich das Angebot von Herrn Pistorius und Frau Köpping, eine starke Führung, die letztlich verkörpert würde durch ein Paar, innenpolitisch, sicherheitspolitisch Pistorius und integrationspolitisch aus dem Osten Frau Köpping. Eigentlich eine Paarung, hinter der sich viele hätten versammeln können.
Und ohne, dass er überhaupt eine Partnerin vorschlagen könnte, kommt jetzt Olaf Scholz aus der Hüfte und tritt an und verkörpert damit natürlich den Spaltpilz innerhalb der SPD, denn er unterschätzt maßlos, wie sehr er für die Parteilinke ein rotes Tuch ist.
Das heißt, wir werden Ende Oktober es erleben, dass meinem Eindruck nach wir keinerlei klare Aussage über die Führung haben werden. Es werden wahrscheinlich drei, vier Paare einlaufen mit vielleicht um die 20 Prozent, und dann haben wir eine derartige Unklarheit ob der Führung innerhalb der SPD, dass die Führungsfrage in keinster Frage beantwortet ist. Wir haben dann anschließend eine Stichwahl. Die zwei besten werden dann ein letztes Mal ins Rennen gehen. Aber das Vakuum, so meine Prognose, wird bestehen bleiben. Das heißt, die große Frage, ist die SPD in der Lage, mit der Frage um die Parteispitze auch die Frage, die ja das Land am allermeisten interessiert, wie geht es eigentlich weiter auch mit der Großen Koalition, zu klären, die halte ich in diesen nächsten Wochen für fast nicht lösbar.
Im Gegenteil: Ich befürchte, dass die SPD sich in einem Maße schädigen wird, weil letztlich Paare antreten, die sich alle schwächer machen und wir zu keiner klaren Aussage kommen. Insofern ist die Lage für die SPD meinem Eindruck nach desaströs, und Herr Weil sagte das zu Recht. Das Problem war nur, dass er wie alle anderen Vize, Stellvertreter, die ja letztlich in der Lage gewesen wären, früh eine Entscheidung zu treffen, alle nicht die Traute hatten zu sagen, wir sind für eine gemeinsame Lösung, und das macht das Desaster eines Vakuums an der Spitze der SPD gegenwärtig aus.
Armbrüster: Herr von Lucke, dann nur noch eine Frage mit der Bitte um eine kurze Antwort. Können wir dann sagen, dass gerade beide Parteien, SPD und CDU ein Problem haben mit den strategischen Fragen, dass sie einfach nicht in der Lage sind, gewisse strategische Fragen sicher zu beantworten?
von Lucke: Absolut! Wir erleben ein Vakuum an der Spitze beider Volksparteien, wie es die Republik in meiner Erinnerung nicht erlebt hat bisher. Und wir müssen regelrecht Sorge haben, dass diese Parteien nicht in den Zustand eines fast anarchischen Zustand der Führungslosigkeit übergehen. Und das wäre desaströs, denn die Ergebnisse am 1. September sind ja bereits klar. Wir werden massive Gewinne der AfD erleben. Die Verlierer sind SPD und CDU. Das ist ob der Tatsache, dass die Volksparteien entscheidend waren für die Stabilität unserer Republik, ein verheerendes Zeichen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.