Manaus, Mittwochvormittag gegen elf. Die "Amazon Star" macht schon einmal auf sich aufmerksam. Dicht eingeklemmt liegt sie zwischen vielen anderen Schiffen an einem von drei Anlegestegen, die von einer großen Sandbank aus in den Fluss ragen. Das ist der Passagierhafen in Manaus. In einer Stunde soll die "Amazon Star" ablegen. Vier Tage wird ihre Reise dann dauern bis Belem.
Noch stehe ich auf der Sandbank bei Jones Ferrera, der irgendwie seinen alten Kombi hier hin rangiert hat. Zwei große Boxen dröhnen aus dem Kofferraum.
Hier, wo alle vorbeimüssen zu den Schiffen, ist der ideale Platz für den besten Straßenmusiker von Manaus. Denn davon ist er überzeugt:
"Ich bin Brega-Sänger. Oder Brega-Bolero. So nennt man diesen Stil. Die typischen Rhythmen eben wie der Lambada. Das ist Musik hier aus der Amazonasregion - klassische Volksmusik. Hier im Hafen arbeite ich immer zwei Tage pro Woche. An den anderen Tagen singe ich in Supermärkten oder auf Messen in Manaus – überall. Ich produziere meine Musik selbst. Wenn du eine CD im Laden kaufst, ist sie viel teurer. Heute habe ich schon 70 verkauft."
Auch in den kleinen Bretterbuden läuft das Geschäft bestens. Säfte und Süßigkeiten sind gefragt, Groschenromane, Spielzeug und "Lanches", wie die Brasilianer sagen - verpackte Mahlzeiten. Von dieser Sandbank aus fahren jeden Tag mehr als 30 Schiffe in die entlegensten Winkel des Bundesstaates Amazonas. Träger balancieren Pakete, Matratzen und Paletten voller Bier über den Steg.
Oben auf der Brücke der "Amazon Star" ist Kapitän Vanderlon Leao Pereira bereit zum Ablegen. Sein 14 Jahre altes Schiff gehört schon optisch zum moderneren Teil der Amazonasflotte, die hier liegt:
"Unser Schiff ist noch bestens in Schuss. Du siehst ja, dass es hier in der Region auch noch viele alte Schiffe aus Holz gibt. Aber viele Menschen haben Angst, noch mit einem Holzschiff zu reisen. Sie wollen eines aus Stahl, weil sie glauben, dass das sicherer ist. Die alten Holzschiffe verkehren noch auf Strecken bis sechs oder acht Stunden. Lange Reisen erlauben die Hafenbehörden nicht mehr."
Genau 306 Passagiere gehen in Manaus an Bord. Mit drei Decks hat die "Amazon Star" etwa die Größe eines Ausflugsdampfers auf Rhein oder Donau. Oben gibt es ein paar einfache fensterlose Kabinen. Fünf Quadratmeter mit Doppelstockpritsche, Dusche und Toilette für umgerechnet 300 Euro die vier Tage bis Belem.
Deutlich preiswerter ist das mittlere Deck. Dort reiht sich Hängematte an Hängematte, obwohl das Schiff heute weniger als halb voll ist. Und selbst ganz unten zwischen der Fracht haben einige ihr Lager aufgeschlagen:
"Nur wenn man rechtzeitig an Bord ist, bekommt man einen guten Platz. Ich lebe in Manaus und bin unterwegs in meine alte Heimat Santarem – ganz alleine. Aber ich kenne viele Menschen hier auf dem Schiff. Und während der Reise werde ich noch mehr neue kennenlernen. Ich ruhe mich einfach aus. Ich habe ja meine eigene Hängematte dabei. Und einen guten Platz, weil ich früh genug hier war."
Lucimar Machado kennt sich aus. Die 61-Jährige fährt die Strecke jedes Jahr. Und während draußen nach einer Stunde Fahrt der dunkle Rio Negro mit dem schlammig-braunen Rio Solimoes zusammenfließt, wie der Amazonas zwischen der Grenze zu Peru und Manaus offiziell heißt, treffen sich die ersten Passagiere am kleinen Kiosk hinten auf dem Oberdeck.
Hier stehen auch acht Duschen. Jeden Nachmittag laufen sie drei Stunden durchgehend. Vor allem zur Freude der Kinder an Bord, die sich unter der milchkaffeebraunen Brühe vergnügen. Kapitän Leao Pereira sieht meinen fragenden Blick:
"Das Bade- und Duschwasser ist aus dem Fluss. Aber zum Essen zubereiten nehmen wir natürlich Mineralwasser. Wir haben keine so großen Tanks, um Wasser für so viele Menschen mitzunehmen. Aber das Flusswasser ist sauber. Es hat sich noch keiner beschwert."
Enge an Bord, aber keine Klagen
Die Stimmung an Bord ist auch viel zu entspannt für irgendwelche Klagen. Auch wer nur bis Santarem fährt, hat noch rund 36 Stunden Nichtstun vor sich. Zeit spielt keine Rolle. Der Fluss ist hier noch bis zu fünf Kilometer breit. Die "Amazon Star" fährt in der Mitte. Sie weicht nur aus, wenn ein großes Seeschiff entgegenkommt: Container- oder Sojafrachter auf dem Weg nach Manaus:
"Hier in dieser Region geht das Wasser immer zwischen Juni und so etwa November zurück. Da musst du verdammt vorsichtig sein mit Sandbänken oder großen Felsen unter Wasser. Ab Dezember steigt es wieder. Immer sechs Monate Hochwasser, sechs Monate Niedrigwasser."
Gegen halb sechs abends versinkt die Sonne in einem roten Ball hinter dem Schiff. Überall auf Deck sitzen jetzt kleine Grüppchen zusammen – trinken, lachen und erzählen. Ein junger Mann klimpert auf seiner Gitarre und versucht, sich gegen die laute Musik der Bordanlage durchzusetzen:
"Es ist schwer, hier zu spielen. Aber okay, wir wollen einfach ein bisschen zusammen Musik machen, ein paar Lieder spielen. Das ist doch schön, wenn Menschen aus verschiedenen Ländern zusammensitzen und etwas gemeinsam machen.
Ich bin Argentinier und komme gerade aus Bolivien. Mein Kumpel hier ist aus Peru. Wir haben uns auf dem Schiff kennengelernt. Und jetzt haben wir Spaß an dieser tollen Reise über den Amazonas."
Spätabends kommt der erste Stopp. Das Städtchen Itacotiará ist aber so klein, dass es keinen Anlegesteg hat. Zwei Motorboote bringen ein paar neue Passagiere und Gepäck. Viele Reisende liegen schon in den Hängematten und versuchen, das ewige Brummen des Schiffsmotors einfach zu ignorieren. Ein paar andere feiern aber noch ausgiebig und machen sich den Refrain aus dem Bordlautsprecher zum Motto: Mais uma cerveja – noch ein Bier:
"Letztes Jahr mussten wir manchmal vorsichtig sein. Da haben die Passagiere gelegentlich wirklich viel getrunken. Aber zum Glück ist es noch nie passiert, dass einer betrunken in den Fluss gefallen ist. Stell dir vor, nachts im dunklen Wasser geht einer über Bord. Dann wird es schwierig, so einen Passagier zu suchen."
Zustieg mit Hindernissen
Das Schiffshorn kennt keine Gnade. Es ist Donnerstagfrüh kurz nach sieben. Parintins heißt die nächste Station. Die Stadt auf einer riesigen Insel im Amazonas ist bekannt durch ein buntes indigenes Folklore-Festival immer in der letzten Juni-Woche. Aus ganz Brasilien strömen die Menschen dann hierher.
Heute aber wollen nur wenige aussteigen und eigentlich wäre der Stopp in 20 Minuten erledigt, stünden da nicht zwei Männer mit ihren chromblitzenden Quads am Kai. Große Aufregung, denn die Hafenmauer ist zu hoch. Wie kommen die schweren vierrädrigen Geländemotorräder jetzt an Bord?
Es wird probiert und diskutiert. Am Ende wuchten ein paar starke Männer die beiden Quads doch noch aufs Schiff. Der Ausflug von Emerson Alves Andrade und seinem Vater ist gesichert:
"Wir fahren mit den Quads woanders hin, weil wir Abwechslung suchen. Hier auf Parintins benutzen wir sie nicht oft. Das ist ja eine Insel. Hier gibt es keine richtigen Wälder, kein Gestrüpp, keinen Schlamm. Deswegen transportieren wir unsere Quads zu solchen Orten. Nach Santarem zum Beispiel oder nach Monte Alegre."
Und während die beiden ihre teuren Spielzeuge nicht aus den Augen lassen, drängen sich -wie bei jedem Stopp- die fliegenden Händler vor dem Schiff:
"Ananas, Schokolade – jedes Eis ein Real!"
Das Eis wird über Körbe an langen Stangen nach oben auf die Decks gereicht, Münzen dafür heruntergeworfen. Andere packen Früchte in kleine Tütchen ab.
Auf Werbetour für Gott
Ein ganz anderes Geschäft betreibt Evandro da Sina Fernandes. Der unscheinbare kleine Mann hat sich in Parintins an der Besatzung vorbeigemogelt. Jetzt schiebt er sich predigend durch das Gewirr der Hängematten. In einem Land, in dem Freikirchen boomen wie kaum irgendwo anders, gibt es praktisch keinen Ort, an dem nicht auch für sie geworben wird:
"Ich bin Missionar und schon seit sechs Jahren hier am Amazonas. Meine Kirche heißt 'Das letzte Werk Gottes' und verbreitet das Evangelium. Und wir verteilen auch Bibeln."
Eher teilnahmslos hören die Reisenden in den Hängematten der kurzen Predigt zu. Der Missionar hat sein Ziel noch nicht erreicht. Geschickt klimpert er mit ein paar kleinen Glasröhrchen, die an Parfumproben erinnern. Und die leuchtend blaue Flüssigkeit darin weckt jetzt auch die Neugier einiger Beobachter:
"Das ist Öl zum Salben, heiliges Öl. Das träufelt man sich auf den Kopf. Wenn wir hier predigen und das Öl verteilen, wollen wir Vertrauen schaffen. Es ist ein symbolischer Akt - unentgeltlich. Aber die Menschen geben dann meistens 50 Centavos oder einen Real."
Und so hat sich auch dieser Ausflug an Bord gelohnt. Noch etwa acht Stunden bis Santarem. Dort legt das Schiff über Nacht eine Pause ein. Direkt vor der Stadt mündet der mächtige Tapajos in den Amazonas. Der Strom wird so breit, dass die Ufer nicht mehr zu sehen sind. Am nächsten Tag dauert es aber nur ein paar Stunden, bis sich die Landschaft komplett verändert.
Keine weiten gerodeten Flächen mehr. Stattdessen wird es grüner und enger. Immer mehr Seitenarme zweigen links und rechts ab in den dichten Regenwald. Einer sieht aus wie der andere. Der Hauptstrom ist kaum noch zu erkennen. Jetzt ist die Reise auch für den Kapitän nicht mehr ganz so entspannt:
"Ich vertraue auf meine lange Erfahrung. Tag für Tag auf dem Schiff - da gräbt sich das ein. Das vergisst man nicht mehr. Du siehst ja, hier gibt es so viele Abzweigungen in alle Richtungen. Und noch ein Flüsschen. Und noch eines. Das ist hoch kompliziert auch wenn wir Seekarten haben. Aber es gibt Momente, da ist die Erfahrung einfach wichtiger."
Auf Heimaturlaub in der Hängematte
Einen ähnlichen Satz hat auch Joao Carlos Pinhao kürzlich gehört. Er ist am Amazonas geboren und vor mehr als 20 Jahren nach Australien ausgewandert. Jetzt ist der 43-Jährige zum ersten Mal wieder zurück. Vom Schiff aus zeigt er seiner Frau und vor allem seiner kleinen Tochter die alte Heimat:
"Sie ist erst sechs Jahre alt. Ihr gefällt das Ganze Abenteuer. Ich habe mit ihrem Lehrer gesprochen, ob ich sie ein bisschen früher aus der Schule rausnehmen kann. Da hat der Lehrer gesagt 'Klar, am Amazonas lernt sie doch viel mehr als in zwei Wochen hier im Klassenzimmer.'"
Und deshalb reist die Familie Pinhao auch in der Hängematte. Mit dem Geld habe das nichts zu tun, sagt Vater Joao Carlos:
"Ich habe zuerst vorgeschlagen, eine Kabine zu nehmen. Weil wir ja ein sechsjähriges Mädchen dabei haben und es dort ein wenig privater wäre. Aber meine Frau wollte das nicht. Für sie ist die Hängematte das Abenteuer. Da reist Du zusammen mit den Einheimischen. Du triffst Menschen von überall, die den Fluss hoch- oder runterfahren. Wenn man dann noch Portugiesisch spricht, findet man viele neue Freunde. Wir haben so viel zu erzählen. Es ist total interessant."
Während der zurückgekehrte Auswanderer über seine lange Reise von Australien über Singapur, Dubai und Rio de Janeiro bis an den Amazonas berichtet, paddeln unten auf dem Fluss immer wieder Menschen aus den Ufersiedlungen im Regenwald mit ihren Kanus zum Schiff. Und prompt fliegen von Deck kleine Päckchen ins Wasser - Plastiktüten, die viele der Passagiere offenbar schon vorbereitet haben. Lebensmittel?
"Nein, alte Kleidung. Schuhe, Sandalen, Hosen, Hemden - alles Mögliche. Die Menschen hier sind arm. Sie können sich keine Kleidung kaufen. Also bringen wir welche mit."
Der letzte Abend an Bord ist angebrochen. Nur noch ein Halt auf der Insel Marajó, die schon fast im Amazonas-Delta liegt. Kapitän Leao Pereira löst noch einmal seinen Vize ab. Sie teilen sich den Job auf der Brücke. Immer abwechselnd sechs Stunden Dienst, sechs Stunden Pause. Auf Dauer gehe das in die Knochen, klagt er:
"Morgen früh um zehn Uhr kommen wir in Belem an. Dann ruhe ich mich erst einmal ein bisschen aus. Die vier Reisetage sind schon ganz schön anstrengend. Wir fahren zwei Mal im Monat zwischen Belem und Manaus hin und her. 106 Stunden flussaufwärts gegen den Strom, 69 Stunden flussabwärts."
Ankunft nach 72 Stunden Fahrzeit
Am Ende sind es etwas mehr als 72 Stunden reine Fahrzeit bis die "Amazon Star" dann endlich vor dem neuen Hafengebäude von Belem festmacht. Jetzt kann es vielen nicht schnell genug gehen. Die inzwischen fast 500 Passagiere drängeln sich die beiden Treppen hinunter zum Ausgang. Jeder will jetzt der Erste sein. Nur Joana Jin da Silva sitzt noch ganz entspannt auf ihrer zusammengefalteten Hängematte. Die 53-Jährige hat noch eine Tagesreise im Bus vor sich. Fast scheint es, als sei bei ihr der Weg das Ziel:
"Ich komme aus dem Bundesstaat Roraima ganz im Norden Brasiliens. Da lebe ich an einem Grenzfluss zu Guyana. Von dort bis Manaus war ich schon einen Tag im Bus unterwegs. Insgesamt sind es sechs Tage bis zu meinem Ziel Marabá. Vier auf dem Schiff und zwei im Bus. Mit dem Flugzeug ginge es natürlich schneller. Knapp zwei Stunden im Direktflug. Aber fliegen mag ich nicht. Auf dem Schiff lernt man mehr Menschen kennen und man ist sofort mit allen gut Freund."