Archiv


Von Monstern, Geistern und Hexen

Schon immer träumten die Menschen davon, übersinnliche Kräfte zu haben, fliegen zu können, Mixturen zu brauen, die einen geliebten Menschen dazu bringen, ihre Liebe zu erwidern - aber auch davon, mittels Hexerei Böses zu tun, Macht auszuüben, die Welt zu beherrschen. In der Fantasyliteratur kann das wahr werden.

Von Simone Hamm | 16.02.2008
    Gut und spannend geschrieben, schaffen Harry Potter und Tintenherz ganz neue Welten. Im Fahrwasser dieser Romane wurden etliche Bücher über junge Zauberer und magische Wesen geschrieben, viele davon nur ein müder Abklatsch von englischen Zauberinternaten und literarischen Figuren, die zum Leben erwachen. Schnell geschriebene, sprachlich schlechte, dem Umfang nach dicke, inhaltlich dünne Bücher, deren Autoren keine Erkenntnis vermitteln und noch nicht einmal unterhalten wollen. Autoren und Verlage haben offenbar nur eines im Sinn: Kasse zu machen.

    Aber auf den Bücherstapeln, zu denen die Fantasyromane mittlerweile aufgerichtet werden können, gibt es auch Fantasyromane zu entdecken, die tatsächlich Neues erschaffen haben: Eine mystische Geschichte aus den spanischen Pyrenäen, die vor allem Mädchen ansprechen dürfte. Ein spannender Roman aus dem heutigen Amerika, in dem die Profitgier der Großkonzerne angeprangert wird und gekaufte Politiker versuchen, die Präsidentschaft an sich zu reißen. Ein ”Fantasythriller", in dem ein zynisches Skelett der Titelheld ist. Eine moderne Fabel, in der Heerscharen von Monstern ihr Unwesen treiben. Und eine moderne Zirkusgeschichte, die an ein altes Märchen erinnert.

    "Der Klan der Wölfin" von Maite Carranza
    Ein kleines Dorf in den spanischen Pyrenäen: Zehn Monate lang ist es winterlich. In dieser unwirtlichen Gegend leben Anaid und ihre Mutter. Anaid ist klein und zierlich, hat struppiges, kurz geschnittenes schwarzes Haar. Sie ist eine Außenseiterin, die davon träumt auf die Geburtstagspartys der Klassenkameraden eingeladen zu werden. Anaid ist vierzehn Jahre alt, aber sie sieht aus wie elf. Eines Tages verschwindet ihre Mutter, die schöne, rothaarige, lebenslustige Selene. Selene, die Comiczeichnerin, die zu laut lacht, zu viel trinkt, zu ausgelassen tanzt.

    ”Der Klan der Wölfin" heißt Maite Carranzas Fantasyroman. Die katalanische Anthropologin hat etliche Romane und Drehbücher geschrieben und ist in Spanien recht bekannt. Ihre Hexen reiten nicht auf Besen durch die Nacht. Sie lieben Armani und Dolce und Gabana. In den Kleidern ihrer Lieblingsdesigner lassen sich die Zauberformeln noch mal so gut raunen. Sie fahren teure Geländewagen, und wenn sie seriös wirken wollen, zaubern sie sich die gediegene Garderobe einer Fernsehanwältin herbei. Selene möchte ihre Tochter fortbringen aus dem Norden Spaniens - nach Sizilien. Da gebe es ein gleichaltriges Mädchen, Clodia. Doch Anaid sträubt sich.

    Ich habe keine Lust. Nicht, weil ich Sizilien doof finde. Im Gegenteil, ich fände es toll, das Theater von Syrakus zu besichtigen, Palermo zu sehen, bei einer Verfolgungsjagd der Mafia dabei zu sein, den Ätna zu besteigen und einen Köpper ins Mittelmeer zu machen, aber um nichts in der Welt, nicht einmal im Traum denke ich daran, mich zum Trottel von Clodia und ihren amici italiani zu machen. Je toller diese Clodia ist, desto schlimmer! Konnte Selene denn nicht verstehen, dass das genau mein Problem war? Wenn sie mir aufgetischt hätte, dass Clodia Lepra hätte, die Ärmste immer im Bett liegen müsset und ihr die Finger und Ohren abfielen, dann wäre das etwas anders gewesen.

    Beschwert sich Anaid sich bei ihrer Tante. Da verlässt die Mutter die Tochter, ohne ein Wort der Erklärung, ohne einen Abschiedsbrief. Und Anaid taucht ein in eine andere Welt, eine Welt der Mythen, der Hexen und der Geister. Maite Carranza wechselt auch sprachlich die Ebenen. Der flapsigen Teenagersprache Anaids setzt sie mystische Naturbeschreibungen gegenüber. Dieser reizvolle Gegensatz bestimmt den Roman. Und natürlich der Gegensatz, der in keinem Fantasyroman fehlen darf: der Gegensatz von Gut und Böse.

    Die Hexenwelt ist gespalten. Es gibt die guten Omar, die niemals zu ihrem eigenen Vorteil zaubern, die mit ihren Zaubertränken keine Liebe erzwingen, keine Gefühle beschwören möchten. Und es gibt die Odish, die das genaue Gegenteil wollen: manipulieren, tricksen, ja sogar töten, um ihren Traum vom einem unsterblichen Leben in Luxus und Verschwendung zu erfüllen. Deshalb sollen die Odish ein für alle Mal ausgelöscht werden. Eine rothaarige Hexe soll das Böse vernichten.

    Soweit ist alles klar. Aber wer gehört zu den Odish, wer zu den Omar? Nichts ist, wie es scheint. Wo ist Anaids Mutter? Und wer ist Anaids Mutter? Anaid weiß nicht, wem sie trauen soll. Der eleganten Fremden, in deren Nähe sie sich so wohl fühlt? Den Freundinnen ihrer Mutter, die sich so seltsam verhalten? Die ihr merkwürdige Sätze zuraunen:

    Aber manchmal ändern sich die Menschen, die wir am meisten lieben, oder sind nicht die, für die wir sie halten.

    Ein Spiel um die Macht beginnt, ein Spiel von Täuschung. Ganz langsam hat Maite Carranza ihre Geschichte entwickelt, die Handelnden erst nach und nach eingeführt. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Bis zum überraschenden Ende.

    Maite Carranza hat mit "Der Klan der Wölfin" ein Fantasybuch vor allem für Mädchen geschrieben, denn die Hauptprotagonistinnen sind allesamt Frauen, weise Frauen mit geheimnisvollen Kräften. Natürlich ist ”Der Klan der Wölfin" auch ein Entwicklungsroman: Wie aus dem hässlichen Entlein ein strahlend schönes junges Mädchen wird, aus dem verlorenen, verunsicherten Kind eine Person, der alle zu Füssen liegen, wie Anaid an Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl gewinnt - das ist auch ein Stück Magie.

    "Schattenmacht" von Anthony Horowitz
    Reno, die Spielerstadt in der Wüste Amerikas. Jaimie und sein Zwillingsbruder Scott treten in einem schäbigen Theater auf. Sie bitten Leute aus dem Publikum ein Wort in der Zeitung anzukreuzen. Jamie liest es und bittet seinen Bruder, dem er zuvor die Augen verbunden hat, zu sagen, um welches Wort es sich handelt. Scott weiß es. Er weiß es immer. Die Zuschauer sind fasziniert. Arbeiten die Jungen mit versteckten Mikrofonen? Gegen sie sich heimlich Zeichen? Noch Tage später werden sie sich fragen, wie die Jungen das gemacht haben.

    Und keiner von ihnen zog die schlichte Wahrheit in Betracht, obwohl sie die einzig mögliche Erklärung war und ihnen direkt ins Gesicht starrte. Es gab keine Mikrofone. Keine versteckten Hinweise. Keine Codes oder heimliche Helfer hinter der Bühne. Der Trick war, das es keiner war. Die beiden Jungen konnten wirklich die Gedanken des anderen lesen.

    Mehr noch, die Brüder können sich in die Köpfe anderer Menschen hineindenken. Eines Abends sind zwei gefährliche Männer im Publikum und eine Frau, die auf der Suche nach ihrem Sohn ist, der entführt wurde. Auch ihr Kind hatte übersinnliche Fähigkeiten.

    Anthony Horowitz legt den dritten Teil seiner Trilogie "Die fünf Tore" vor: "Schattenmacht". Es gelingt den Männern, Scott zu entführen, Jamie kann entkommen. Eine Jagd quer durch Amerika beginnt. Horowitz Roman spielt zunächst in der Gegenwart, im Amerika der Wohnwagenparks, der Hinterhöfe und Motels. In einem Amerika, dessen Politik Horowitz geißelt. Jugendliche Straftäter werden ins Gefängnis geworfen. Man nimmt ihnen dort nicht nur die Freiheit, sondern auch ihre Identität. Man nimmt ihnen ihre Uhren, genauso wie alles andere, was ihnen ein Gefühl von Unabhängigkeit geben könnte. Die großen Verbrecher aber lässt man laufen.

    Das Problem in diesem Land ist, dass wir alle nur zu gern bereit sind, bei Verbrechen ein Auge zuzudrücken, wenn sie mit Geschäften zu tun haben. Eine Fabrik brennt ab, und zwanzig Arbeiter sterben. Ein Tank ist undicht und vergiftet einen ganzen Fluss. Ein Waffensystem wird ins Ausland verkauft und schließlich gegen amerikanische Soldaten eingesetzt. Niemand denkt sich etwas dabei, denn das Wichtigste ist der Profit.

    Das mag in den Ohren eines Erwachsenen gar zu politisch korrekt klingen. Aber es sind genau die Probleme, die jugendliche Leser, die sich für Politik und Gesellschaft interessieren, beschäftigen. Anthony Horowitz ist hiermit etwas ganz Eigenes gelungen: Die Verschränkung von Fantasy und Realpolitik. Anderes ist weniger eindrucksvoll: Manche der Handlungsstränge sind doch sehr vorhersehbar und kommen den Lesern recht bekannt vor.

    Dennoch hat Horowitz einen actiongeladenen Roman geschrieben, spannende Unterhaltung. Im Fieber lernt Jaimie eine andere Welt kennen, eine Welt, wie es sie vor zehntausend Jahren gab. In dieser Welt wird er kämpfen - für Gerechtigkeit und Freiheit.

    Horowitz Personen sind, was sie sind: gut oder böse. Sein Roman lebt von der Spannung, vom schnellen Wechsel der Orte, vom rasanten Sprung durch die Zeiten. Showdown ist das versuchte Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten, der sich für eine bessere Welt einsetzt. Nur Jamie kann ihn retten. Nur er kann in den Kopf des gedungenen Mörders schlüpfen und ihm andere Anweisungen geben. Als er es versucht, erstarrt er: In die Gedanken des Mannes, der gleich zum Attentäter werden wird, hat sich bereits ein anderer geschlichen: Sein Bruder Scott.

    Skulduggery Pleasant" von Derek LandyEine Romanfigur, die Romane schreibt, eine tote Romanfigur. Gordon Edgleys schreibt Horrorromane, einen nach dem anderen. Er ist sehr erfolgreich damit. Dabei kommt er einem Geheimnis auf die Spur und wird ermordet. Zur Testamentseröffnung ist auch ein großer Unbekannter geladen. Ein Mann mit Hut und Sonnenbrille, der seinen dicken Schal bis unter die Brillengläser gezogen hat und Handschuhe trägt: Skulduggery Pleasant. Er ist ein Detektiv. Und die Titelfigur in David Landys Roman "Skulduggery Pleasant - der Gentleman mit der Feuerhand".

    Sehr zum Leidwesen der gierigen Verwandtschaft hinterlässt Gordon Edgleys sein nicht unbeträchtliches Vermögen seiner Nichte Stefanie. Sie lebt mit einem geistesabwesenden Vater und einer patenten Mutter zusammen. Sie findet ihr Leben langweilig und eintönig. Bis zum Tage der Testamentseröffnung. Sie erkennt bald, das Skulduggery kein Mensch ist, sondern: ein Skelett - tot und lebendig zur selben Zeit.

    Stephanie fragte: "Dann wirst Du mir in Zukunft nichts mehr verheimlichen?" Er legte die Hand auf die Brust. "Hand aufs Herz. Ich schwöre es bei meinem Leben." - "Okay. Allerdings hast du kein Herz mehr." - "Ich weiß." - "Und rein technisch gesehen auch kein Leben." - "Auch das weiß ich." - "Dann verstehen wir uns ja."

    Von Skulduggery Pleasant, der Name bedeutet auf deutsch etwa "netter Betrug", erfährt Stefanie, dass ihr Onkel ein Zepter entdeckt hat. Wer dieses Zepter in Händen hält, wird die Herrschaft über die Welt erlangen – und sie zerstören können. Ein dramatischer Wettlauf beginnt. Der Skelettdetektiv und das Mädchen wollen die Welt retten. Dabei nimmt es Skulduggery Pleasant nicht so genau mit der Gesetztestreue. Er greift zu kleineren Betrügereien und auch zu schmutzigen Tricks, das Hehre eines Harry Potters etwa geht ihm völlig ab. Eine gehörige Portion Zynismus ist ihm eigen.

    Gute wie Böse, Untote, Monster, Vampire, Tentakel, kampfsportgestählte Ladys, muskelbepackte Trolle, Männer mit Porzellanmasken machen sich auf, das Zepter zu erlangen. Nicht immer ist jeder der, als der er sich ausgibt. Und Stefanie ist bald mittendrin. Sie stürzt sich in ein wildes, blutiges Abenteuer - nicht nur, weil sie mutig, auch, weil sie unvorsichtig ist.

    Die Geschichte überzeugt nicht immer. Es mangelt den Bösewichtern an Tiefe und die üble Verwandtschaft der kleinen Stefanie ist gar zu klischeehaft gezeichnet. Dafür aber gibt es jede Menge wunderbar ironische Dialoge zwischen dem Skelettdetektiv und der mutigen Stefanie. Von diesem Witz lebt das Buch. Damit erreicht Derek Landy auch, dass sein Roman nie ins Pathetische abgleitet, obwohl es doch darum geht, die Menschheit vor dem Untergang zu retten.

    "Skulduggery Pleasant - der Gentleman mit der Feuerhand" wird mit seinem zynischen Protagonisten und den blutigen Kampfszenen nicht jedem Leser gefallen. Die jugendlichen Leser werden sicher eher als ihre Eltern begeisterter sein vom ungewöhnlichen Helden. In jedem Fall aber ist es Derek Landy gelungen, einen völlig neuen Protagonisten zu schaffen, jemanden, den die Fantasywelt so noch nicht kannte.

    "Die Drachensteine" von Geraldine McCaughrean
    August 1919: Der erste Weltkrieg ist vorbei. Phelim Green lebt mit seiner älteren Schwester in einem kleinen Haus auf dem Lande. Sein Leben ist entbehrungsreich, seine Schwester ist nicht eben nett zu ihm. Jeden Abend füttert Phelim eine "Geisterkatze", ein Wesen, das er nie gesehen hat. Jeden Morgen ist das Milchschälchen leer. Eines Morgens, als er in die Küche kommt, ist alles durcheinander geworfen, sind die Möbel vor die Tür geschoben worden. Eine seltsame Kreatur erzählt Phelim, das der Weltuntergang nahe.

    Minenwerfer und Mörser haben Feld in Geröll zerbröselt. Gewehre haben so schnell geschossen wie Stöcke, die an einem Zaun entlangrattern. Der Himmel war noch um Mitternacht taghell. Genug, um die Toten aufzuwecken, erst recht die Lebenden.

    Und noch jemanden haben die Kanonen des Krieges aufgeweckt, einen alten Drachen, der zehntausend Jahre lang schlafen sollte. Nun will er mit seinen bösen Helfershelfern die Welt zerstören. Geraldine Mc Caughrean hat mit "Die Drachensteine", einen Roman geschrieben, der stellenweise geradezu alttestamentarisch anmutet:

    Es gab eine Zeit, da leisteten die Menschen ihren Tribut - Salz. Korn. Blut. Jetzt nicht mehr. Die Tributzahlungen haben aufgehört. Die Menschen zahlen ihre Schulden nicht mehr. Die Heiligen werden nicht mehr geehrt. Die Ernte wird eingefahren ohne ein Wort des Dankes.

    Die Menschen haben vergessen, dankbar zu sein, sind gierig geworden. Und dafür werden sie bestraft. Das klingt nicht nur nach zornigem Gott, sondern auch nach alten Fabeln. Viele solcher Mythen hat Geraldine Mc Caughrean in ihren Roman eingewoben: zu viele.

    Phelim soll jetzt die Welt vor dem Bösen retten, vor schwarzen Hunden, Satansbraten, Dracks, Barguests, Aufspiessern, Kornmuhmen, Nuckelavien, Bubries, Mittagsmördern, Rotkappen, Merrows, Kobolden. Auch der aufmerksamste Leser wird sich kaum merken können, wer welches Monster ist. Es sind einfach verwirrend viele.
    Geraldine Mc Caughrean ist eine fantasievolle Schriftstellerin, die etwa in ihrem Arche Noah Roman "Nicht das Ende der Welt" große Bilder heraufbeschwören kann. Beim "Drachenstein" jedoch ist ihre Fantasie mit ihr durchgegangen. Ihr Roman wirkt, als wolle sie einen Rekord brechen: Als wolle sie auf knapp 230 Seiten mehr Monster zeigen als Joan K. Rowlings in allen sieben Harry Potter Bänden auf einmal. Die Anzahl der Monster sagt aber weder über die Qualität noch über die Spannung etwas aus. Im Gegenteil, das wirkt unübersichtlich und geht zu Lasten der Geschichte.

    Stellenweise wirkt der Roman, wie im Seminar für kreatives Schreiben konzipiert. Viele, viele Unschuldige müssen blutrünstig ermordet werden, damit auch ja deutlich wird, wie böse die Monster sind. Und Phelim seinerseits meuchelt die Bösen. So erschlägt er das kleine Seelenmäuschen des Drachens - und damit erledigt er auch gleichzeitig den Drachen. Doch Erleichterung macht sich auch da nicht breit. Nicht bei Phelim, der sich jetzt auf die Suche nach seinem verschwundenen Vater macht, der von der Schwester in ein Irrenhaus gebracht worden ist. Und erst recht nicht beim erschöpften Leser. Die Idee, das Fantasygenre zu bereichen, indem man eine Armada von fabelhaften Bösewichtern einführt, ist nicht aufgegangen.

    "Das gestohlene Lachen" von John Berkeley
    Kann man das Fantasygenre noch um etwas völlig Neues, Anderes bereichern? Man kann es, wenn man sich - so paradox das zunächst klingen mag - auf die Tradition besinnt, sich an Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" und James Matthew Barries "Peter Pan" erinnert. Wenn man die Kunst der geschliffenen Dialoge beherrscht, Humor hat und die Gabe, Personen lebendig und warmherzig zeichnen zu können.

    Der Ire Jon Berkeley hat seinen ersten Roman geschrieben: "Das gestohlene Lachen". Ein zierliches Mädchen balanciert auf einem Turm von Kugeln, Würfeln Tischchen und Kegeln - hoch oben in der Zirkuskuppel. Dann stürzt sie. Ein Raunen geht durch das Publikum. Da breitet sie ihre Flügel aus und segelt sanft zum Boden. Dabei erblickt sie einen Jungen, der sich heimlich in den Zirkus geschlichen hat und unter den Sitzreihen hockt.
    Miles ist ein Waisenknabe, der aus dem Waisenhaus ausgebüchst ist und in einer Tonne lebt. Zusammen mit seinem schweigsamen Freund Mandarine, einem alten Teddy, der einstmals orangefarben gewesen ist. Miles bekommt mit, dass man das Mädchen Little gewaltsam im Zirkus festhält - und er befreit sie. Die beiden wollen fliehen, weit weg vom Zirkus. Doch die Zirkusleute haben Miles Teddy gestohlen und in den Palast des Lachens verschleppt hat. Den Teddy will, den muss er wiederholen. Gemeinsam begeben sich Little und Miles auf eine gefährliche Reise.

    Jon Berkeley hat ein Märchen geschrieben. Das Märchen von dem rauen Waisenknaben, der ganz zärtlich wird, wenn es um ein zierliches Artistenmädchen geht, von bösen Clowns und guten Clowns, von einem gierigen Zirkusdirektor, der den Menschen das Lachen nehmen will. Und das Märchen von einer kleinen Artistin, die eigentlich ein Engel ist, ein Liedengel. Liedengel, so erklärt sie Miles, leihen dem einen Lied ihre Stimme. Das eine Lied ist das Lied der Universalität, das Lied der Ganzheit, aus dem das Traurige und das Schreckliche nicht ausgeblendet werden dürfen.

    Das eine Lied ist die Komposition, die allem zu Grunde liegt. Das eine Lied hält die Welt in Gang und lässt die Sterne leuchten. Alles, was es gibt, alle Insekten, Steine, Flüsse und Blumen, haben im Einen Lied ihren besonderen Namen, ebenso Liebe und Kummer, Freude, Zorn und Mut, und alles muss in Einklang gebracht werden. Fehlt ein Element, gerät alles in Auflösung, als ob man die einzelnen Stränge eines Seils voneinander trennt.

    Wie im Märchen sind alle Figuren Jon Berkeleys überzeichnet. Die dicke adelige Dame ist ungeheuer dick und sie hat nicht drei, sondern hunderte von Katzen, die Leiterin des Waisenhauses ist so grausam wie die Mutter von Hänsel und Gretel und der Engel ist so zart und ätherisch, wie ein Engel nur sein kann. Aber nie werden Berkeleys Figuren schablonenhaft, nie werden sie zu Karikaturen. Sie bleiben immer zauberhaft - wie die Feen und Riesen in den Märchen eben. Seine Personen, auch die Nebenfiguren sind fein ausgestaltet, warm und lebendig.

    Wie so viele Märchen ist auch sein Märchen eines, das von unerschütterlicher Freundschaft handelt. Seine Geschichte von Freundschaft und Verantwortung für einander zieht die Leser in Bann. Little erklärt Miles, das der Begriff der Freundschaft unter Engeln ein anderer sei:

    Das eine Lied ist wunderschön. Aber dort oben durfte ich es nur singen. Hier unten kann ich es leben, kann richtige Freundschaften schließen.

    Nicht immer ist Jon Berkeley so ernsthaft. Seine Dialoge sind klug und witzig. Humorvoll betrachtet er seine Figuren, bisweilen wendet er sich direkt an die Leser. Fast jedes Kapitel beginnt Berkeley, indem er den Zustand seiner Hauptfigur Miles beschreibt:

    Der wundgerittene, sonnengebräunte Miles Wednesday spürte den Wind im Haar.

    Der schuhlose, knopflose Miles Wednesday verrenkte sich den Hals.

    Der mit blauen Flecken übersäte, verwirrte, bärenlose Miles Wednesday hielt den Atem an.

    Der apfelhungrige, unfreiwillig gefangene Miles Wednesday sah den verhutzelten Alten.

    Der heimatlose, völlig verstörte Miles Wednesday robbte im großen Bogen durchs hohe Gras.


    Die Fantasyliteratur ist wieder beim Märchen angelangt. Jon Berkeley hat den Kreis geschlossen. Spätesten seit Tolkien gilt Fantasyliteratur nicht mehr als B-Literatur, nicht mehr nur als reine Unterhaltung. Die vorgestellten Romane sind alle auch Entwicklungsromane. Die jugendlichen Protagonisten fühlen sich nicht mehr als Einzelne, sondern als Teil des Ganzen. Sie reifen an ihren Aufgaben. Es geht weniger um uralte Drachen, fliegende Monster und begabte Zauberer, sondern um die Sinnhaftigkeit dessen, was man tut. Das klingt nach hehren, großen Worten. Aber ohne dass er die Welt gerettet hat, entlässt keiner der Autoren seine Helden. Daran hat sich auch im 21. Jahrhundert nichts geändert.

    Bücherliste:

    John Berkeley: "Das gestohlene Lachen"
    Aus dem Englischen von Gerald Jung und Katharina Orgaß
    Ravensburger, 392 Seiten, 16,95 Euro
    Als Hörbuch bei Kidoh, fünf CDs, 22,99 Euro

    Maite Carranza: "Der Klan der Wölfin"
    Aus dem Spanischen von Hanna Grzimek
    Bloomsbury Verlag, 413 Seiten, 17,75 Euro
    als Hörbuch bei Goya Lit, sechs CDs, 29,95 Euro

    Geraldine McCaughrean: "Die Drachensteine"
    Aus dem Englischen von Klaus Weimann
    Verlag Freies Geistesleben, 227 Seiten, 14,90 Euro

    Anthony Horowitz: "Die fünf Tore. Schattenmacht"
    Aus dem Englischen von Simone Wiemken
    Loewe, 400 Seiten, 16,90 Euro

    Derek Landy: "Skulduggery Pleasant.
    Der Gentleman mit der Feuerhand"

    Aus dem Englischen von Ursula Höfker
    Loewe, 344 Seiten, 16,90 Euro
    Als Hörbuch bei Hörcompany, sechs CDs, 24 Euro