Stabsunteroffizier David Pöhl zeigt seine Tagesausbeute. Es ist später Nachmittag und der 24-jährige deutsche Soldat ist seit früh morgens mit seinem Team in Sarajewo im Einsatz. Die Männer tragen Tarnanzüge mit dem aufgenähten Sternenbanner der Europäischen Union. Zwischen der verminten Ruine eines Altenheims und einem protzigen, modernen Hochhaus aus Glas und Stahl warten die EUFOR-Soldaten darauf, dass die Bosnier freiwillig ihre Waffen abgeben, die sie seit Ende des Bürgerkriegs in ihren Schränken, Gärten oder Kellern verstecken.
Ein zerbeulter, roter Wagen fährt vor. Hastig steigt ein alter Mann aus - in der Hand eine Plastiktüte und unter dem Arm ein in braunes Packpapier eingewickeltes Paket.
In dem unscheinbaren Paket verbirgt sich eine abgegriffene Holzflinte, und die Plastiktüte ist voller Handgranaten. Er gebe die Waffen ab, weil er kleine Kinder zu Hause habe, sagt der Mann.
" Ich habe jetzt die Waffe geprüft den Ladezustand, ob die Waffe sicher ist, nicht, dass sich noch eine Patrone im Lauf befindet, und habe das Magazin raus genommen. Meine Dolmetscherin hat den Kameraden gefragt hier, was das ist. Und er sagte: "Bomba", das heißt Handgranaten und er hat gesagt: Die sind sicher. Und das überprüfe ich jetzt noch mal und ziehe um den Bügel und die Handgranate eine Kabelstrapse."
Das Militär nennt diese Art von Einsätzen "Waffenernte". 2005 gibt es in Bosnien noch etwa eine halbe Million illegaler Waffen, schätzen die Vereinten Nationen, und diese zu finden, ist Teil ihrer Friedensmission.
Die Volksgruppen stehen sich auch heute noch feindlich gegenüber. Noch immer befinden sich viele Kriegsverbrecher wie Radovan Karadzic und Radko Mladic auf freiem Fuß. Die bosnische Wirtschaft liegt am Boden, nur die Mafia treibt blühende Geschäfte. Bosnien ist ein Umschlagplatz für den internationalen Handel mit Waffen, Menschen und Drogen geworden, und gilt zunehmend auch als neue Operationsbasis islamischer Extremisten und Terroristen. Böse Zungen nennen die Friedensmission in Bosnien eine "Mission Impossible", eine unmögliche Mission – Zu Recht?
" Die NATO hat hier in Bosnien wirklich hervorragende Arbeit geleistet. In den neun Jahren bevor EUFOR das Kommando übernommen hat, hat die NATO außergewöhnlich gut das Friedensabkommen von Dayton umgesetzt: Sie hat die ehemaligen Kriegsparteien getrennt, die Streitkräfte in Bosnien kontrolliert, reduziert und reformiert und dadurch dem Land Frieden und Stabilität gebracht. "
General David Leakey ist Chef der EUFOR-Friedenstruppen. 7000 Soldaten hat er im Dezember 2004 von der NATO übernommen. Die Mission ist damit auf ein Zehntel geschrumpft, und dient vorrangig keinem militärischen, sondern einem politischen Ziel: Bosnien den Weg in die EU zu ebnen. Das Haupthindernis dafür sieht der General in den kriminellen, Mafia-ähnlichen Netzwerken. Daher hat er den Kampf gegen das Organisierte Verbrechen zum Schwerpunkt seines Einsatzes erkoren. Die Soldaten fahnden nach illegalen Waffen, verfolgen Benzinschmuggler oder untersuchen die Machenschaften der Holzindustrie. Kritiker werfen Leakey vor, das Militär verkomme dabei zur Hilfstruppe der bosnischen Polizei. Keineswegs, stellt der General klar.
" EUFOR ist keine Polizeitruppe. Wir arbeiten nicht wie Polizisten und werden auch nicht das Problem des Organisierten Verbrechens in Bosnien Herzegowina lösen. Aber wir werden der örtlichen Polizei – den Zoll- und Steuerbehörden sowie dem Grenzschutz dabei helfen, Einsätze eigenständig planen und durchführen zu können. Es gibt ein englisches Sprichwort, das sagt: Man kann ein Pferd zum Wasser führen, aber es wird nicht trinken. Wir zwingen das Pferd, seinen Kopf in den Wassertrog zu stecken. Wir werden den bosnisch-herzegowinischen Polizisten dabei helfen, dass sie sich ihre Arbeit zutrauen und sich dabei auch sicher fühlen."
Für die Europäische Union ist dies der größte Militäreinsatz ihrer Geschichte und daher auch ein Test für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. General Peter Göbel, der die tausend deutschen EUFOR-Soldaten anführt, hatte, so sagt er, zunächst leichte Magenschmerzen, ob auch alles klappen würde.
" Insofern ist eine der Gleichungen vor der wir so ein bisschen Angst hatten, bevor wir hier übernommen haben – EUFOR gleich UNPROFOR gleich Schwaches Mandat gleich Srebrenica, was alles dort für Dinge hätten assoziiert werden können. Es ist nicht dazu gekommen, die Leute haben gesehen, dass die EUFOR etwas ganz anderes ist als UNPROFOR."
Ein großer Schatten liegt auf der Bosnienmission der Vereinten Nationen. Denn diese begann mit einem Debakel. Zunächst schaute die Europäische Union machtlos dabei zu, wie in Bosnien der blutige Bürgerkrieg tobte, und die Vereinten Nationen griffen 1993 vor Europas Haustüre ein. Bei der desaströsen UNPROFOR-Mission, beobachteten die Blauhelmsoldaten in Srebrenica tatenlos, wie serbische Truppen mehrere tausend Bewohner ermordeten. Mehr noch: Nach Recherchen holländischer Journalisten sollen die Blauhelme sogar nicht gehandelt haben, obwohl sie vorab vom Plan der Serben gewusst haben sollen.
Nachdem das Dayton-Abkommen den Bürgerkrieg in Bosnien beendete, schickten die Vereinten Nationen erneut Friedenssoldaten ins Land, die diesmal – notfalls auch mit Waffengewalt – die Umsetzung des Friedensvertrags überwachen sollten. 1996 wurden die NATO-Truppen von IFOR in SFOR, also von Implementierungs- in Stabilisierungskräfte, umgetauft. Auch deutsche Soldaten halfen nun dabei, das Land zu stabilisieren. Ende 2004 wurde aus SFOR die aktuelle Friedensmission EUFOR, und statt der NATO führt nun die Europäische Union den Einsatz für die Vereinten Nationen.
" Hallo Sarajewo! Hier ist Radio Andernach. Live aus dem Studio Rajlovac. Mit Oberleutnant Marko Rudnik. Moin! Hier ist dein Einsatzradio. Und jetzt: Drei Hits am Stück. "
Im deutschen Feldlager Rajlovac sitzen nur wenige Meter von Häusern, die von Granatsplittern des Bürgerkrieges durchlöchert sind, einige Soldaten im Biergarten. Proviant haben sie nebenan bei "Tante Emma" gekauft, dem Supermarkt des Lagers. Damit die deutschen Soldaten kein Heimweh bekommen, gibt’s hier alles – vom deutschen Duschgel über die Barbiepuppe als Geschenk für bosnische Kinder bis hin zum Flaschenbier und der obligatorischen Fernsehzeitschrift. Matthias Landsdorfer ist 33 und lebt seit einem halben Jahr in dieser fast schon idyllischen Parallelwelt, die mit Mauern, Stacheldraht, Sandsäcken und Sicherheitsvorkehrungen vom rauen bosnischen Alltag abgeschirmt ist. Er geht hier ins Kino und zum Friseur, steckt seine Briefe in einen gelben Briefkasten der deutschen Post, und hört sogar deutsches Radio, denn das Lager hat einen eigenen Sender.
Matthias Landsdorfers Arbeitszimmer liegt in einer Kaserne mit Jugendstil-artiger Fassade am Hauptplatz der Militärkleinstadt: Das Gebäude stammt wie einige andere auch noch aus der Zeit, als die österreichisch-ungarische Armee hier stationiert war. Den Hauptplatz säumen gelbe, deutsche Ortsschilder. Links geht es nach Seth in Nordfriesland, rechts nach Rotenburg-Wümme, und geradeaus liegt Hammelburg. Wenn der Hauptfeldführer aus seinem Fenster schaut, sieht er am Fahnenmast die Flaggen derjenigen Nationen wehen, die momentan in Bosnien im EUFOR-Einsatz sind: die französische, albanische, italienische und deutsche, und hoch darüber die europäische Flagge. Aus dem Lager leitet Matthias Landsdorfer seine Patrouille, die derzeit in Sarajewo von Haus zu Haus geht, um Waffen einzusammeln. Stolz zeigt er die Ausbeute seiner Männer.
" Das war ein Fund vom letzten Tag: Eine nagelneue Panzerfaust, die abgegeben wurde. Diese Waffe ist ein Schießstift, die so groß wie ein Kugelschreiber und wurde extra angefertigt zum verschießen von Kleinkalibermunition. Dann hier diverse Handgranaten unterschiedlicher Ausführung mit Aufschlagzünder und ganz normale. "
Matthias Landsdorfer ist zufrieden, das Ergebnis kann sich sehen lassen. Erfolgreich sei das Waffensammeln vor allem deshalb gewesen, weil die bosnische Bevölkerung mit den Friedenstruppen zusammengearbeitet habe, sagt er. Nur manchmal am Wochenende schimpften manche Einwohner, man solle sie in Ruhe lassen und nicht an den Türen klingeln, um nach Waffen zu fragen.
Uniformierte Soldaten der Friedensmission, die plötzlich vor der Türe stehen – die Bosnierin Nadza Dizdarevic hat das Anfang 2002 erlebt. Die strenggläubige Muslimin wohnt in einem Hochhaus neben der König-Fahd-Moschee in Sarajewo. Nie werden sie und ihre Kinder den Tag vergessen, an dem die SFOR klingelte. Die Friedenstruppen hätten ihre Wohnung durchwühlt, erzählt die vollständig verschleierte Frau. Der blaue Stoff gibt nur ihre Augen frei, die wütend aufblitzen, als sie sich erinnert. Die NATO-Soldaten hätten Beweise gegen ihren algerischen Mann gesucht, der als El-Kaida-Terrorist verdächtigt worden war, vom obersten bosnischen Gericht aber freigesprochen wurde. Sie hätten schließlich neben ein paar Bonbons, Wunderkerzen und einem Erste-Hilfe-Kasten auch ihren Mann mitgenommen.
Als sie ihn abgeholt haben, habe ich sie gefragt: Was ist los? Ihr habt doch nichts gefunden, warum führt ihr ihn ab? Da haben sie gesagt: Kein Problem, wir müssen das nur ausführen, die Organisation in der er arbeitet, muss überprüft werden, und er wird sicherlich bald nach Hause kommen. Ich habe das geglaubt – denn ich weiß, dass er unschuldig ist.
Doch ihr Mann sitzt nun im amerikanischen Gefangenlager von Guantanamo. Nadza Dizdarevic ist von Amerika enttäuscht, und ganz besonders auch von der Bosnienmission der Vereinten Nationen. Auch der heutige Chef der Friedenstruppen, David Leakey, gibt zu: Was damals geschehen sei, gehöre nicht zu den Sternstunden der Bosnienmission.
" Der SFOR sind eine Menge Fehler unterlaufen – auch ich persönlich habe zu dieser Zeit, als ich noch Brigade-Kommandeur war, einiges falsch gemacht. Aber dieser Fall ist Geschichte und beeinflusst unsere heutige Mission überhaupt nicht mehr. Menschen, die gegen das Dayton-Abkommen verstoßen und das Land destabilisieren, indem sie beispielsweise eine terroristische Gruppe gründen, könnten wir verhaften. Aber EUFOR würde die Verhafteten natürlich den bosnischen Autoritäten übergeben."
Doch die bosnischen Autoritäten tun sich schwer, das künstlich per Dayton-Vertrag zusammengeflickte Land zu regieren. Denn alles gibt es doppelt oder dreifach: Das Land hat drei Präsidenten und zwei Entitäten, die jeweils über einen kompletten Politik-, Militär- und Verwaltungsapparat verfügen. 70 Prozent des Haushalts verschlingt der Staat. Nur sehr selten gelingt es den 180 Ministern, sich politisch zu einigen. Selbst so praktische Dinge wie Autokennzeichen, Reisepässe, die Staatsflagge oder die Nationalhymne musste die internationale Gemeinschaft dem Land verordnen.
Zwar steht inzwischen die Nationalmelodie, doch einen Text gibt es nicht dafür – manche murmeln, andere pfeifen aus Protest, wenn die Hymne erklingt. Und auch mit dem neuen Nationalsymbol, der bosnischen Flagge, können viele Einwohner des Landes wenig anfangen: ein gelbes Dreieck auf blauem Grund, an dessen Flanke einige silberne Sterne verlaufen - soll das etwa Bosnien sein?
Der bosnische Präsidentenpalast demonstriert trotzdem Macht. Mit rotem Samt ausgelegte, in Marmor gehaltene Gänge führen in einen Prachtsaal voller Kronleuchter und alter Gemälde, die Sarajewo zeigen, als es noch ein Dorf war. Statt eines Präsidenten erscheinen gleich drei zum Interviewtermin. Der serbische Bosnier Borislav Paravac greift zum Mikrofon:
"Wir sind das dreiköpfige Präsidium, das die Regierung von Bosnien und Herzegowina bildet. Unsere Regierung basiert wie in allen anderen Staaten auf der Gewaltenteilung in Judikative, Legislative und Exekutive. Wir sagen eben scherzhaft aber, dass es in Bosnien noch eine vierte Staatsgewalt gibt: den Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft."
Immer dann, wenn sich die drei Präsidenten gegenseitig blockieren, greift Paddy Ashdown ein. Der internationale Bosnien-Beauftragte ist der mächtigste Mann im Staat - er kann selbst die Präsidenten entlassen. An der Wand hinter Paddy Ashdowns Rednerpult hängt eine überdimensional große, symbolträchtige Collage: Die bosnische Flagge, die mit der Europäischen verschmilzt. Beide haben denselben blauen Hintergrund, und die bosnische Linie silberner Sterne führt direkt in den elitären Kreis der goldenen von Europa. Die Flagge drückt Paddy Ashdowns politisches Programm aus: Bosnien fit zu machen für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Und Bosnien stehe bereits kurz vor dem historischen Meilenstein: Der EU-Assoziierung.
" Wenn das geschafft ist, ist die Ära von Dayton ist vorbei und die Ära von Brüssel hat begonnen. Auf die Phase der Friedensstabilisierung folgt nun die Phase der Europäischen Integration. Das Land muss jetzt seine Souveränität selbst in die Hände nehmen. Und auch die Rolle der internationalen Gemeinschaft muss sich verändern: Wir müssen eher beobachten und motivieren, als selbst aktiv zu sein. "
Diese Einsicht kommt reichlich spät, findet der führende bosnische Intellektuelle und ehemalige Ministerpräsident Haris Silajzic.
" Die Internationale Gemeinschaft hat bei ihrer Friedensmission etwas Entscheidendes übersehen: Das Dayton-Abkommen war ursprünglich als dynamisches Abkommen gedacht, das vor allem Frieden schaffen sollte, aber keinen Staat. Stattdessen zementierte man die Aufteilung Bosniens in zwei Entitäten und erklärte das Dayton-Abkommen zum Sakrileg. Jeder Versuch, es anzutasten, wurde gestoppt – das habe ich mit meiner Partei selbst erlebt. Zwar wird jetzt allmählich die Verfassung geändert, doch ich denke, diese Reformen kommen sehr spät – wir hätten das schon vor fünf Jahren machen können. "
Auch der renommierte norwegische Friedensforscher und alternative Nobelpreisträger Johan Galtung kritisiert die Bosnienmission. Denn was in dem Balkanland seit 1995 abgelaufen ist, hat seiner Ansicht nach mit "Frieden" wenig zu tun.
"Es gibt da selbstverständlich Sicherheitsprobleme und deshalb gibt es vielleicht einen gewissen Gebrauch von Soldaten, um die Gewalterscheinungen zu dämpfen. Aber das ist nicht Friede, das ist im besten Falle Waffenstillstand. Das ist nicht Friede, das ist etwas ganz Unterschiedliches. Das ist derselbe Unterschied als zwischen Fieber dämpfen, nach unten bringen, und Heilung. Die Wunden, die dort unten sind, sind sehr tief. Und die sind vergrößert, und die werden sich vermehren, auf unterschiedlichste Weise. "
Eine wirkliche Friedensmission, so Galtung, würde die drei Volksgruppen selbst bestimmen lassen, in welcher Staatsform sie leben wollen. Das Ergebnis würde seiner Meinung nach ganz anders aussehen, als der heutige Staat.
Die Reform der Dayton-Verfassung wird schwierig werden, befürchtet Paddy Ashdown. Die ersten Schritte zu einem schlankeren Staat hat er den Präsidenten bereits abgenommen, doch nun sollen diese – auch auf ausdrücklichen Wunsch der Vereinten Nationen – ihren Weg selbstständig gehen.
" Einige glauben tatsächlich, dass die Internationale Gemeinschaft wie ein Erzengel nach Bosnien fliegt, das Friedensabkommen von Dayton in ihre Klauen nimmt, und dann auf eine Airforce-Basis flattert, um es neu zu schreiben – das wird nicht passieren. Es gibt nur eine Lösung für die Verfassungsreform: Abstimmung und Kompromisse zwischen den drei Völkern. Die nächste Verfassung muss die Aufschrift "made in Bosnia" tragen, und nicht: "made in irgendeiner fernen Hauptstadt". "
Ein zerbeulter, roter Wagen fährt vor. Hastig steigt ein alter Mann aus - in der Hand eine Plastiktüte und unter dem Arm ein in braunes Packpapier eingewickeltes Paket.
In dem unscheinbaren Paket verbirgt sich eine abgegriffene Holzflinte, und die Plastiktüte ist voller Handgranaten. Er gebe die Waffen ab, weil er kleine Kinder zu Hause habe, sagt der Mann.
" Ich habe jetzt die Waffe geprüft den Ladezustand, ob die Waffe sicher ist, nicht, dass sich noch eine Patrone im Lauf befindet, und habe das Magazin raus genommen. Meine Dolmetscherin hat den Kameraden gefragt hier, was das ist. Und er sagte: "Bomba", das heißt Handgranaten und er hat gesagt: Die sind sicher. Und das überprüfe ich jetzt noch mal und ziehe um den Bügel und die Handgranate eine Kabelstrapse."
Das Militär nennt diese Art von Einsätzen "Waffenernte". 2005 gibt es in Bosnien noch etwa eine halbe Million illegaler Waffen, schätzen die Vereinten Nationen, und diese zu finden, ist Teil ihrer Friedensmission.
Die Volksgruppen stehen sich auch heute noch feindlich gegenüber. Noch immer befinden sich viele Kriegsverbrecher wie Radovan Karadzic und Radko Mladic auf freiem Fuß. Die bosnische Wirtschaft liegt am Boden, nur die Mafia treibt blühende Geschäfte. Bosnien ist ein Umschlagplatz für den internationalen Handel mit Waffen, Menschen und Drogen geworden, und gilt zunehmend auch als neue Operationsbasis islamischer Extremisten und Terroristen. Böse Zungen nennen die Friedensmission in Bosnien eine "Mission Impossible", eine unmögliche Mission – Zu Recht?
" Die NATO hat hier in Bosnien wirklich hervorragende Arbeit geleistet. In den neun Jahren bevor EUFOR das Kommando übernommen hat, hat die NATO außergewöhnlich gut das Friedensabkommen von Dayton umgesetzt: Sie hat die ehemaligen Kriegsparteien getrennt, die Streitkräfte in Bosnien kontrolliert, reduziert und reformiert und dadurch dem Land Frieden und Stabilität gebracht. "
General David Leakey ist Chef der EUFOR-Friedenstruppen. 7000 Soldaten hat er im Dezember 2004 von der NATO übernommen. Die Mission ist damit auf ein Zehntel geschrumpft, und dient vorrangig keinem militärischen, sondern einem politischen Ziel: Bosnien den Weg in die EU zu ebnen. Das Haupthindernis dafür sieht der General in den kriminellen, Mafia-ähnlichen Netzwerken. Daher hat er den Kampf gegen das Organisierte Verbrechen zum Schwerpunkt seines Einsatzes erkoren. Die Soldaten fahnden nach illegalen Waffen, verfolgen Benzinschmuggler oder untersuchen die Machenschaften der Holzindustrie. Kritiker werfen Leakey vor, das Militär verkomme dabei zur Hilfstruppe der bosnischen Polizei. Keineswegs, stellt der General klar.
" EUFOR ist keine Polizeitruppe. Wir arbeiten nicht wie Polizisten und werden auch nicht das Problem des Organisierten Verbrechens in Bosnien Herzegowina lösen. Aber wir werden der örtlichen Polizei – den Zoll- und Steuerbehörden sowie dem Grenzschutz dabei helfen, Einsätze eigenständig planen und durchführen zu können. Es gibt ein englisches Sprichwort, das sagt: Man kann ein Pferd zum Wasser führen, aber es wird nicht trinken. Wir zwingen das Pferd, seinen Kopf in den Wassertrog zu stecken. Wir werden den bosnisch-herzegowinischen Polizisten dabei helfen, dass sie sich ihre Arbeit zutrauen und sich dabei auch sicher fühlen."
Für die Europäische Union ist dies der größte Militäreinsatz ihrer Geschichte und daher auch ein Test für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. General Peter Göbel, der die tausend deutschen EUFOR-Soldaten anführt, hatte, so sagt er, zunächst leichte Magenschmerzen, ob auch alles klappen würde.
" Insofern ist eine der Gleichungen vor der wir so ein bisschen Angst hatten, bevor wir hier übernommen haben – EUFOR gleich UNPROFOR gleich Schwaches Mandat gleich Srebrenica, was alles dort für Dinge hätten assoziiert werden können. Es ist nicht dazu gekommen, die Leute haben gesehen, dass die EUFOR etwas ganz anderes ist als UNPROFOR."
Ein großer Schatten liegt auf der Bosnienmission der Vereinten Nationen. Denn diese begann mit einem Debakel. Zunächst schaute die Europäische Union machtlos dabei zu, wie in Bosnien der blutige Bürgerkrieg tobte, und die Vereinten Nationen griffen 1993 vor Europas Haustüre ein. Bei der desaströsen UNPROFOR-Mission, beobachteten die Blauhelmsoldaten in Srebrenica tatenlos, wie serbische Truppen mehrere tausend Bewohner ermordeten. Mehr noch: Nach Recherchen holländischer Journalisten sollen die Blauhelme sogar nicht gehandelt haben, obwohl sie vorab vom Plan der Serben gewusst haben sollen.
Nachdem das Dayton-Abkommen den Bürgerkrieg in Bosnien beendete, schickten die Vereinten Nationen erneut Friedenssoldaten ins Land, die diesmal – notfalls auch mit Waffengewalt – die Umsetzung des Friedensvertrags überwachen sollten. 1996 wurden die NATO-Truppen von IFOR in SFOR, also von Implementierungs- in Stabilisierungskräfte, umgetauft. Auch deutsche Soldaten halfen nun dabei, das Land zu stabilisieren. Ende 2004 wurde aus SFOR die aktuelle Friedensmission EUFOR, und statt der NATO führt nun die Europäische Union den Einsatz für die Vereinten Nationen.
" Hallo Sarajewo! Hier ist Radio Andernach. Live aus dem Studio Rajlovac. Mit Oberleutnant Marko Rudnik. Moin! Hier ist dein Einsatzradio. Und jetzt: Drei Hits am Stück. "
Im deutschen Feldlager Rajlovac sitzen nur wenige Meter von Häusern, die von Granatsplittern des Bürgerkrieges durchlöchert sind, einige Soldaten im Biergarten. Proviant haben sie nebenan bei "Tante Emma" gekauft, dem Supermarkt des Lagers. Damit die deutschen Soldaten kein Heimweh bekommen, gibt’s hier alles – vom deutschen Duschgel über die Barbiepuppe als Geschenk für bosnische Kinder bis hin zum Flaschenbier und der obligatorischen Fernsehzeitschrift. Matthias Landsdorfer ist 33 und lebt seit einem halben Jahr in dieser fast schon idyllischen Parallelwelt, die mit Mauern, Stacheldraht, Sandsäcken und Sicherheitsvorkehrungen vom rauen bosnischen Alltag abgeschirmt ist. Er geht hier ins Kino und zum Friseur, steckt seine Briefe in einen gelben Briefkasten der deutschen Post, und hört sogar deutsches Radio, denn das Lager hat einen eigenen Sender.
Matthias Landsdorfers Arbeitszimmer liegt in einer Kaserne mit Jugendstil-artiger Fassade am Hauptplatz der Militärkleinstadt: Das Gebäude stammt wie einige andere auch noch aus der Zeit, als die österreichisch-ungarische Armee hier stationiert war. Den Hauptplatz säumen gelbe, deutsche Ortsschilder. Links geht es nach Seth in Nordfriesland, rechts nach Rotenburg-Wümme, und geradeaus liegt Hammelburg. Wenn der Hauptfeldführer aus seinem Fenster schaut, sieht er am Fahnenmast die Flaggen derjenigen Nationen wehen, die momentan in Bosnien im EUFOR-Einsatz sind: die französische, albanische, italienische und deutsche, und hoch darüber die europäische Flagge. Aus dem Lager leitet Matthias Landsdorfer seine Patrouille, die derzeit in Sarajewo von Haus zu Haus geht, um Waffen einzusammeln. Stolz zeigt er die Ausbeute seiner Männer.
" Das war ein Fund vom letzten Tag: Eine nagelneue Panzerfaust, die abgegeben wurde. Diese Waffe ist ein Schießstift, die so groß wie ein Kugelschreiber und wurde extra angefertigt zum verschießen von Kleinkalibermunition. Dann hier diverse Handgranaten unterschiedlicher Ausführung mit Aufschlagzünder und ganz normale. "
Matthias Landsdorfer ist zufrieden, das Ergebnis kann sich sehen lassen. Erfolgreich sei das Waffensammeln vor allem deshalb gewesen, weil die bosnische Bevölkerung mit den Friedenstruppen zusammengearbeitet habe, sagt er. Nur manchmal am Wochenende schimpften manche Einwohner, man solle sie in Ruhe lassen und nicht an den Türen klingeln, um nach Waffen zu fragen.
Uniformierte Soldaten der Friedensmission, die plötzlich vor der Türe stehen – die Bosnierin Nadza Dizdarevic hat das Anfang 2002 erlebt. Die strenggläubige Muslimin wohnt in einem Hochhaus neben der König-Fahd-Moschee in Sarajewo. Nie werden sie und ihre Kinder den Tag vergessen, an dem die SFOR klingelte. Die Friedenstruppen hätten ihre Wohnung durchwühlt, erzählt die vollständig verschleierte Frau. Der blaue Stoff gibt nur ihre Augen frei, die wütend aufblitzen, als sie sich erinnert. Die NATO-Soldaten hätten Beweise gegen ihren algerischen Mann gesucht, der als El-Kaida-Terrorist verdächtigt worden war, vom obersten bosnischen Gericht aber freigesprochen wurde. Sie hätten schließlich neben ein paar Bonbons, Wunderkerzen und einem Erste-Hilfe-Kasten auch ihren Mann mitgenommen.
Als sie ihn abgeholt haben, habe ich sie gefragt: Was ist los? Ihr habt doch nichts gefunden, warum führt ihr ihn ab? Da haben sie gesagt: Kein Problem, wir müssen das nur ausführen, die Organisation in der er arbeitet, muss überprüft werden, und er wird sicherlich bald nach Hause kommen. Ich habe das geglaubt – denn ich weiß, dass er unschuldig ist.
Doch ihr Mann sitzt nun im amerikanischen Gefangenlager von Guantanamo. Nadza Dizdarevic ist von Amerika enttäuscht, und ganz besonders auch von der Bosnienmission der Vereinten Nationen. Auch der heutige Chef der Friedenstruppen, David Leakey, gibt zu: Was damals geschehen sei, gehöre nicht zu den Sternstunden der Bosnienmission.
" Der SFOR sind eine Menge Fehler unterlaufen – auch ich persönlich habe zu dieser Zeit, als ich noch Brigade-Kommandeur war, einiges falsch gemacht. Aber dieser Fall ist Geschichte und beeinflusst unsere heutige Mission überhaupt nicht mehr. Menschen, die gegen das Dayton-Abkommen verstoßen und das Land destabilisieren, indem sie beispielsweise eine terroristische Gruppe gründen, könnten wir verhaften. Aber EUFOR würde die Verhafteten natürlich den bosnischen Autoritäten übergeben."
Doch die bosnischen Autoritäten tun sich schwer, das künstlich per Dayton-Vertrag zusammengeflickte Land zu regieren. Denn alles gibt es doppelt oder dreifach: Das Land hat drei Präsidenten und zwei Entitäten, die jeweils über einen kompletten Politik-, Militär- und Verwaltungsapparat verfügen. 70 Prozent des Haushalts verschlingt der Staat. Nur sehr selten gelingt es den 180 Ministern, sich politisch zu einigen. Selbst so praktische Dinge wie Autokennzeichen, Reisepässe, die Staatsflagge oder die Nationalhymne musste die internationale Gemeinschaft dem Land verordnen.
Zwar steht inzwischen die Nationalmelodie, doch einen Text gibt es nicht dafür – manche murmeln, andere pfeifen aus Protest, wenn die Hymne erklingt. Und auch mit dem neuen Nationalsymbol, der bosnischen Flagge, können viele Einwohner des Landes wenig anfangen: ein gelbes Dreieck auf blauem Grund, an dessen Flanke einige silberne Sterne verlaufen - soll das etwa Bosnien sein?
Der bosnische Präsidentenpalast demonstriert trotzdem Macht. Mit rotem Samt ausgelegte, in Marmor gehaltene Gänge führen in einen Prachtsaal voller Kronleuchter und alter Gemälde, die Sarajewo zeigen, als es noch ein Dorf war. Statt eines Präsidenten erscheinen gleich drei zum Interviewtermin. Der serbische Bosnier Borislav Paravac greift zum Mikrofon:
"Wir sind das dreiköpfige Präsidium, das die Regierung von Bosnien und Herzegowina bildet. Unsere Regierung basiert wie in allen anderen Staaten auf der Gewaltenteilung in Judikative, Legislative und Exekutive. Wir sagen eben scherzhaft aber, dass es in Bosnien noch eine vierte Staatsgewalt gibt: den Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft."
Immer dann, wenn sich die drei Präsidenten gegenseitig blockieren, greift Paddy Ashdown ein. Der internationale Bosnien-Beauftragte ist der mächtigste Mann im Staat - er kann selbst die Präsidenten entlassen. An der Wand hinter Paddy Ashdowns Rednerpult hängt eine überdimensional große, symbolträchtige Collage: Die bosnische Flagge, die mit der Europäischen verschmilzt. Beide haben denselben blauen Hintergrund, und die bosnische Linie silberner Sterne führt direkt in den elitären Kreis der goldenen von Europa. Die Flagge drückt Paddy Ashdowns politisches Programm aus: Bosnien fit zu machen für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Und Bosnien stehe bereits kurz vor dem historischen Meilenstein: Der EU-Assoziierung.
" Wenn das geschafft ist, ist die Ära von Dayton ist vorbei und die Ära von Brüssel hat begonnen. Auf die Phase der Friedensstabilisierung folgt nun die Phase der Europäischen Integration. Das Land muss jetzt seine Souveränität selbst in die Hände nehmen. Und auch die Rolle der internationalen Gemeinschaft muss sich verändern: Wir müssen eher beobachten und motivieren, als selbst aktiv zu sein. "
Diese Einsicht kommt reichlich spät, findet der führende bosnische Intellektuelle und ehemalige Ministerpräsident Haris Silajzic.
" Die Internationale Gemeinschaft hat bei ihrer Friedensmission etwas Entscheidendes übersehen: Das Dayton-Abkommen war ursprünglich als dynamisches Abkommen gedacht, das vor allem Frieden schaffen sollte, aber keinen Staat. Stattdessen zementierte man die Aufteilung Bosniens in zwei Entitäten und erklärte das Dayton-Abkommen zum Sakrileg. Jeder Versuch, es anzutasten, wurde gestoppt – das habe ich mit meiner Partei selbst erlebt. Zwar wird jetzt allmählich die Verfassung geändert, doch ich denke, diese Reformen kommen sehr spät – wir hätten das schon vor fünf Jahren machen können. "
Auch der renommierte norwegische Friedensforscher und alternative Nobelpreisträger Johan Galtung kritisiert die Bosnienmission. Denn was in dem Balkanland seit 1995 abgelaufen ist, hat seiner Ansicht nach mit "Frieden" wenig zu tun.
"Es gibt da selbstverständlich Sicherheitsprobleme und deshalb gibt es vielleicht einen gewissen Gebrauch von Soldaten, um die Gewalterscheinungen zu dämpfen. Aber das ist nicht Friede, das ist im besten Falle Waffenstillstand. Das ist nicht Friede, das ist etwas ganz Unterschiedliches. Das ist derselbe Unterschied als zwischen Fieber dämpfen, nach unten bringen, und Heilung. Die Wunden, die dort unten sind, sind sehr tief. Und die sind vergrößert, und die werden sich vermehren, auf unterschiedlichste Weise. "
Eine wirkliche Friedensmission, so Galtung, würde die drei Volksgruppen selbst bestimmen lassen, in welcher Staatsform sie leben wollen. Das Ergebnis würde seiner Meinung nach ganz anders aussehen, als der heutige Staat.
Die Reform der Dayton-Verfassung wird schwierig werden, befürchtet Paddy Ashdown. Die ersten Schritte zu einem schlankeren Staat hat er den Präsidenten bereits abgenommen, doch nun sollen diese – auch auf ausdrücklichen Wunsch der Vereinten Nationen – ihren Weg selbstständig gehen.
" Einige glauben tatsächlich, dass die Internationale Gemeinschaft wie ein Erzengel nach Bosnien fliegt, das Friedensabkommen von Dayton in ihre Klauen nimmt, und dann auf eine Airforce-Basis flattert, um es neu zu schreiben – das wird nicht passieren. Es gibt nur eine Lösung für die Verfassungsreform: Abstimmung und Kompromisse zwischen den drei Völkern. Die nächste Verfassung muss die Aufschrift "made in Bosnia" tragen, und nicht: "made in irgendeiner fernen Hauptstadt". "