"Que no, que no, que no nos representan! ""Nein, sie repräsentieren uns nicht!"
Als die Ersten diesen Slogan skandierten, ahnte noch niemand, dass er zum Motto einer ganzen Bewegung werden sollte.
Spanien ächzte unter den Folgen der Finanzkrise. Die Arbeitslosigkeit lag bei 22, unter Jugendlichen sogar bei 40 Prozent. Zehntausende Familien waren von Zwangsräumung bedroht. Eine ganze Generation sah sich ihrer Zukunft beraubt. Für viele von ihnen hatte die Politik ihren Kredit verspielt: Während es für das marode Finanzsystem Milliarden aus der Staatskasse gab, waren Arbeitsrechte eingeschränkt worden.
Mehr Teilnehmende als erwartet
Unter dem Motto "Wir sind keine Ware in den Händen der Banker" hatte das Kollektiv "Democracia Real Ya", "Echte Demokratie jetzt" am 15. Mai 2011 im ganzen Land zu Demonstrationen aufgerufen. Mit 130.000 Teilnehmern übertraf der Erfolg alle Erwartungen. Der Sprecher der Initiative Jon Aguirre Such erzählte in einer Dokumentation von 2011:
"Diese Demo schuf ein ganz tolles Gemeinschaftsgefühl, eine außergewöhnlich positive Energie. Die war so ansteckend, dass die Leute sich einfach entschieden haben zu bleiben."
Auf der Puerta del Sol, mitten im Zentrum der spanischen Hauptstadt, schlugen ein paar Dutzend der jungen Demonstranten ihre Zelte auf. Als die Polizei am nächsten Tag versuchte, das Lager zu räumen, kamen Hunderte dazu. Das Camp wuchs. Die Aktivistinnen und Aktivisten waren über die sozialen Netzwerke verbunden und besetzten auch in Barcelona, Valencia und anderen Städten die öffentlichen Plätze.
Parteiabzeichen waren verboten
Mit selbstgezimmerten Infozentren, Essensausgaben und Mülldiensten entwickelten sich die Zeltlager zu eigenständigen Miniatur-Städten. Parteiabzeichen blieben verboten: Der "15M", die "Bewegung des 15. Mai" wollte sich nicht vereinnahmen lassen.
"Die Grenze verläuft nicht mehr zwischen links und rechts, sondern zwischen oben und unten: Die einen haben die Krise verursacht, wir anderen zahlen für sie", sagte Rita Maestre, damals Aktivistin des Kollektivs "Juventud Sin Futuro", "Jugend ohne Zukunft".
Das gesamte System stand auf dem Prüfstand. Die "Asambleas", Versammlungen, an denen jeder teilnehmen konnte, diskutierten über Wohnungsnot, digitale Rechte, das Wahlsystem. Es herrschte das Konsensprinzip. Beide Hände in der Luft hin und her drehen, signalisierte Zustimmung. Überkreuzte Unterarme bedeuteten Nein: ein aufreibendes Verfahren. Die Frage nach der Zukunft der Bewegung wurde immer wichtiger.
Statt großer Camps sollten bald dezentrale "Asambleas", regelmäßige Treffen in den einzelnen Stadtvierteln, einen Gesellschaftswandel vorantreiben. Nachdem die Polizei das Lager in Barcelona bereits Ende Mai gewaltsam geräumt hatte, verließen die letzten Camper am 12. Juni in Madrid die Puerta del Sol.
Enormer Zuwachs von Bürgerinitiativen
Tatsächlich erhielten in den Folgejahren Bürgerinitiativen enormen Zuwachs. Gemeinschaftsgärten und selbstverwaltete Kulturprojekte entstanden. Die "Plattform der Hypothekengeschädigten" stoppte Hunderte von Zwangsräumungen. Das Kollektiv "X.Net" arbeitete an der Aufdeckung von Korruptionsskandalen mit.
Als 2014 "Podemos" die politische Bühne betrat, berief sich auch Gründer Pablo Iglesias auf den 15. Mai. Dabei ist die Linkspartei eher Nutznießerin als direkte Nachfolgerin, sagt Sozialwissenschaftler Jordi Mir.
"Das Besondere an der Bewegung war, dass sie auf Anführer verzichtet hat. Podemos aber entsteht um einen harten Kern ausgebildeter Politologen. Sie haben erfolgreich einen Teil der Empörung für ihre Partei kanalisiert. Wenn jemand den Geist des ‚15. Mai‘ in klassisch-institutionelle Politik übersetzt hat, dann waren das die kommunalen Zusammenschlüsse, die im Frühjahr 2015 in vielen Städten die Bürgermeister stellten: allen voran Barcelona und Madrid."
Zwar werden, bis auf Barcelona, die meisten Kommunen inzwischen wieder von traditionellen Parteien regiert, aber die damals entstandene linksalternative Bewegung hat ihren festen Platz in der politischen Landschaft. Und die Erfahrung, dass scheinbar aus dem Nichts eine Protestbewegung entstehen kann, prägt auch das Spanien der Corona-Krise, glaubt Mir: Ohne sie wären viele der Sozialprogramme undenkbar.