Nach dem Ersten Weltkrieg zählte die Zukunft Danzigs zu den besonders verwickelten Problemen der internationalen Politik. Die neugegründete polnische Republik reklamierte die Hafenstadt für sich, die bis zur Annexion durch Preußen 1793 unter dem Schutz der polnischen Könige gestanden hatte. Doch konnte man im Zeitalter der Demokratie den Willen der ganz überwiegend deutschen Stadtbewohner ignorieren? Wiederholt kam es während der Pariser Friedenskonferenz zu Massenkundgebungen der Danziger Bevölkerung gegen den drohenden Anschluss an Polen. Der Magistrat der Stadt erklärte:
"Unsere alte Hansestadt Danzig ist durch deutsche Kulturkraft entstanden und gewachsen, sie ist kerndeutsch. Wir nehmen für uns das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Anspruch. Wir wollen deutsch bleiben immerdar."
Geostrategisches Filetstück
Die Berufung auf das vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson deklarierte Prinzip des nationalen Selbstbestimmungsrechts war nicht ungeschickt. Doch auch die Polen konnten sich auf Wilson berufen, der ihnen einen leistungsfähigen Ostseehafen versprochen hatte. Ein eigener Zugang zu den Weltmeeren war angesichts der geostrategischen Lage Polens zwischen Deutschland und Russland eine unbedingte Voraussetzung für die nationale Unabhängigkeit. Der erste polnische Ministerpräsident Ignaz Paderewski erklärte im April 1919 in Paris:
"Wenn Polen nicht Danzig erhält, war der Krieg vergebens. Danzig in den Händen der Deutschen zu belassen würde die Niederlage aller Armeen bedeuten, die an diesem Weltkrieg teilgenommen haben."
Doch die Pariser Friedenskonferenz entschied sich auf Betreiben Großbritanniens gegen einen Anschluss Danzigs an Polen. In einem ausgewogenen Kompromiss machten die Siegermächte die Ostseestadt zu einem Freistaat unter dem Schutz des Völkerbunds. Der erste Hohe Kommissar des Völkerbunds in Danzig, Edward Strutt, erklärte am 15. November 1920:
"Die Welt braucht Frieden. Mögen Danzig und Polen dem östlichen Europa darin ein Vorbild sein. Beide Völker mögen glücklich und zufrieden nebeneinander leben, wachsen und gedeihen, durch gegenseitiges Vertrauen und Freundschaft, bei gegenseitiger Unterstützung. Hiermit erkläre ich feierlichst die Stadt Danzig und das sie umgebende Gebiet mit dem heutigen Tage zur Freien Stadt."
Minderheitenschutz für polnische Einwohner
Die Souveränität der Freien Stadt Danzig war in einigen Punkten eingeschränkt: Der Republik Polen wurde die Nutzung des Hafens garantiert und der Betrieb der Eisenbahn zugesprochen; Bürger polnischer Sprache genossen Minderheitenschutz. Die innenpolitische Autonomie war ansonsten gegeben: Die Verfassung der Freien Stadt orientierte sich eng am Vorbild der Weimarer Reichsverfassung, und auch sonst machte der Danziger Volkstag in den kommenden Jahren von seinem Recht ausgiebig Gebrauch, deutscheGesetze zu übernehmen.
Danzig-Propaganda-Kampagne in NS -Deutschland
Als Brücke zwischen Polen und Deutschen erwies sich Danzig nicht, das gegenseitige Misstrauen überdauerte die 1920er Jahre. Die antipolnische Stimmung verhalf der NSDAP bei der Wahl des Volkstags im Mai 1933 zur absoluten Mehrheit. In Deutschland trieb die Danzig-Propaganda Blüten:
"Heil Danzig, edle deutsche Stadt / noch bist Du nicht verloren / wenn auch der Feind bezogen hat / die Wacht vor Deinen Toren …"
Warum der Zweite Weltkrieg vor Danzig begann
Doch erst 1939 setzte Hitler die Danzig-Frage wieder auf die außenpolitische Agenda: Seine Forderung nach einem Anschluss Danzigs an das Reich im Rahmen eines vergifteten Bündnisangebots an Polen wies Warschau zurück. Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit einem Beschuss des polnischen Marinedepots auf der Westerplatte vor Danzig. Noch am selben Tag beschloss der Volkstag die sogenannte Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich. Reichsinnenminister Wilhelm Frick verlas das Danziger Anschlussgesetz im Reichstag:
Danzigs "Anschluss ans Deutsche Reich begräbt zugleich das deutsche Danzig"
Danzigs "Anschluss ans Deutsche Reich begräbt zugleich das deutsche Danzig"
"Artikel 1: Die Verfassung der Freien Stadt Danzig ist mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Artikel 2: Alle gesetzgebende und vollziehende Gewalt wird ausschließlich vom Staatsoberhaupt ausgeübt. Artikel 3: Die Freie Stadt Danzig bildet mit sofortiger Wirkung mit ihrem Gebiet und ihrem Volk einen Bestandteil des Deutschen Reiches."
Das Experiment der Freien Stadt Danzig war beendet. Dass damit zugleich auch der deutschen Kultur Danzigs der Todesstoß versetzt worden war, erkannten die meisten erst 1945.