Jeden Morgen schleppen die Frauen von Uozu schwere Säcke mit Reis auf die Schiffe im Hafen. Oft reicht abends das Geld nicht, um selbst Reis kaufen zu können. Die Frauen sind empört. Der Japanologe Maik Hendrik Sprotte von der Freien Universität Berlin:
"Es gibt so ein Unverständnis, warum aus einer Präfektur, in der so reichhaltig Reis produziert wird, der Reis verschifft wird, um dann wieder teuer eingekauft werden zu müssen."
Eine Preisschraube, an der die Reishändler drehen. Und so hören eines Tages, am 23. Juli 1918, die Frauen aus dem Dorf Uozu in der Präfektur Toyama auf Japans Hauptinsel Honshu einfach auf, Säcke mit Reis zu verladen. Sie lassen sie stehen. Und ziehen stattdessen zu den Häusern der Reishändler, die sie mit Steinen bewerfen.
Innerhalb weniger Tage weitet sich der Aufstand zu landesweiten Protesten aus. Die heute so genannten Reisunruhen dauern zwei Monate an, es kommt zu Streiks in Fabriken und Kohlebergwerken, es gibt Gewalt, es gibt Tote. Tausende lässt die Regierung inhaftieren. Obwohl sie nicht unschuldig ist an der Verteuerung von Reis. Trotz mehrerer schlechter Ernten ließ sie Vorräte horten für die Truppen der kaiserlichen Armee. Dabei boomt Japans Ökonomie.
Existenzangst und Hunger
"Japan geht im Ersten Weltkrieg auf die Seite der Kriegsgegner Deutschlands, in eine wirtschaftliche Wachstumsphase, weil sie auf dem Weltmarkt in Bereiche stoßen können, die von den Briten beispielsweise freigemacht worden sind, die sehr viel mehr in Kriegshandlungen verwickelt waren … Die einfache Bevölkerung in Japan profitiert aber nicht von diesem wirtschaftlichen Aufschwung."
Man schätzt, dass aus Existenzangst und Hunger rund zehn Millionen Japaner, ein Sechstel der Bevölkerung, 1918 auf die Straße gehen. Die tieferen Ursachen für die Rebellion liegen weiter zurück, in einem enormen Modernisierungsprozess nämlich, der Mitte des
19. Jahrhunderts das noch feudale Japan erfasst und mit atemberaubendem Tempo ins Industriezeitalter katapultiert – dabei aber eines vergisst:
19. Jahrhunderts das noch feudale Japan erfasst und mit atemberaubendem Tempo ins Industriezeitalter katapultiert – dabei aber eines vergisst:
"Wie wichtig eigentlich das Leben des einzelnen Untertanen ist."
Noch Mitte des 19. Jahrhunderts ist Japan von der Außenwelt fast vollständig abgeschottet. Im Innern herrscht der Shogun, ein militärischer Führer. Der Tenno ist nur eine Schattenfigur.
"Und dann kommen plötzlich ausländische Schiffe, ein amerikanisches Geschwader, 1853, und sie fordern die Öffnung der Häfen."
Fremde gehen an Land. Mit unbekannten Waren, mit neuen Ideen. Das Shogunat erodiert, das Kaisertum erlebt seine Restauration. Mit der Thronbesteigung des 15-jährigen Meiji-Kaisers beginnen 1868 die heute so genannten Meiji-Reformen und der rasante Aufstieg Japans zur kapitalistischen Industrienation und imperialistischen Macht.
"Es gab eine Vielzahl von Ausländern, die von der japanischen Regierung angestellt wurden, Japan auf den neuesten Stand zu bringen, in allen Bereichen, die Sie sich vorstellen können."
Reformen und Einführung des Yen
Fabriken schießen aus dem Boden, Straßen werden gebaut, Landwirtschaft, Verwaltung und Bankenwesen reformiert. Der Yen wird eingeführt.
"Vorher war Reis das wichtigste Zahlungsmittel."
Es entsteht das, was heute als japanische Hochsprache gilt.
"Indem man einfach sagt, der Dialekt, der im Großraum Tokio gesprochen wird, sei jetzt Hochjapanisch."
Der Berliner Jurist Albert Mosse entwirft eine Verfassung, 1889, nach preußischem Vorbild. Gleichzeitig werden per kaiserlichem Erziehungsdekret alle Untertanen auf die Einhaltung konfuzianischer Regeln verpflichtet, die Gesellschaft bleibt streng hierarchisch gegliedert. Wählen dürfen nur 2,5 Prozent der Bevölkerung.
"Was entsteht, ist ein autoritäres Herrschaftssystem unter der Führung der Tenno."
Genau 50 Jahre nach der Meiji-Restauration von 1868 rebellieren die Japaner, überfordert vom schwierigen Spagat zwischen Tradition und Moderne. Am Ende der Reisunruhen im September 1918 tritt die Regierung aus altem Adel und Offizieren zurück. Japan bekommt ein erstes Parteienkabinett. Die Zensusbeschränkungen werden gelockert. Den Frauen von Uozu, die den Aufstand begannen, nützt das wenig.
"Japanische Frauen müssen sich sehr lange gedulden, bis sie das Wahlrecht bekommen, sie erhalten es erst 1947."