"Millionen vernichtender Geschoße sind in dem Weltkriege abgefeuert worden, aber kein Geschoß war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren Geschichte, als dieser Zug, der, geladen mit den gefährlichsten, entschlossensten Revolutionären des Jahrhunderts über ganz Deutschland saust, um in Petersburg zu landen und dort die Ordnung der Zeit zu zersprengen."
Mit diesen pathetischen Worten beschrieb der Schriftsteller Stefan Zweig in den "Sternstunden der Menschheit" die zweitägige Eisenbahnfahrt Wladimir Iljitsch Lenins durch Deutschland. Am Nachmittag des 9. April 1917 verließ der Zug mit dem russischen Revolutionär und seiner Entourage Zürich, passierte am 10. April Mannheim, Frankfurt am Main und Berlin, bevor er am folgenden Tag Saßnitz auf Rügen erreichte.
Dem russischen Revolutionär die Durchreise erlaubt
"Der Zug ist mehr oder weniger unbemerkt durch Deutschland gefahren", erläutert der Berliner Osteuropahistoriker Jörg Baberowski die Umstände der Reise:
"Wenn jetzt bekannt geworden wäre, dass Lenin mithilfe der Deutschen und ihrer finanziellen Unterstützung durch Feindesland fährt, dann wäre das für ihn von großem Nachteil gewesen."
Kurz zuvor, im Februar 1917, war in Russland ein Aufstand ausgebrochen. Hungersnöte und der zermürbende Krieg hatten zu Massenprotesten und schließlich zur Abdankung des Zaren geführt. Lenin, Mitglied der radikalsozialistischen Bolschewiki, lebte – wie viele andere russische Revolutionäre – seit Jahren im schweizerischen Exil und wollte auf schnellstem Weg in seine Heimat zurückzukehren, um sich an die Spitze der Bewegung zu setzen.
"Wir sind heute in Zürich ganz aus dem Häuschen. Ich bin außer mir, dass ich nicht nach Hause fahren kann!", beschrieb Lenin seine Stimmungslage, als er von der russischen Februarrevolution erfuhr.
Die Reichsregierung hoffte auf Destabilisierung in Russland
Eine rasche Rückkehr über das Territorium des Kriegsgegners Deutschland und Schweden schien aussichtslos. Allerdings suchte die deutsche Regierung russische Revolutionäre, die in ihrer Heimat Unruhen schüren könnten.
"Die Oberste Heeresleitung wollte unbedingt Russland aus dem Kriegsgeschehen herausbrechen. Und sie hat offenbar ein feines Gespür dafür, dass Lenin die richtige Figur dafür sein könnte."
Denn unter den radikalen Sozialisten war Lenin der einzige, der für ein sofortiges Ende des Krieges eintrat und dafür auch eine Niederlage in Kauf nahm. Dahinter stand die Überzeugung, dass der militärischen Niederlage der politische Umsturz Russlands und schließlich die Weltrevolution folgen würden.
Deutsche und Schweizer Sozialisten vermittelten einen Kontakt zwischen den russischen Emigranten und der Reichsregierung, sodass das Auswärtige Amt am 23. März an die Oberste Heeresleitung telegrafieren konnte:
"Da wir Interesse daran haben, dass Einfluss des radikalen Flügels in Russland Oberhand gewinnt, scheint eventuelle Durchreiseerlaubnis durch Deutschland angezeigt."
Verplombte Türen markieren den extraterritorialen Bereich
Die Oberste Heeresleitung hatte keine Bedenken, sodass die Unterhändler nur noch die Details der Reise klären mussten.
"Erst mal sollte das keine große Publizität haben, und zweitens sollte nicht der Eindruck erweckt werden, dass Lenin auf Geheiß der deutschen Regierung über deutsches Territorium, über Feind-Territorium nach Russland fährt. Er bestand ja darauf, dass der Waggon plombiert wurde, um dann sagen zu können, dass er sich nicht auf deutschem Boden, sondern auf extraterritorialem Gebiet befand."
Außerdem sollten Passkontrollen unterbleiben und keine Unbefugten die beiden Waggons betreten dürfen. Rund 30 Personen fuhren schließlich im Sonderzug durch Deutschland, neben Lenin und seiner Frau die führenden Bolschewiki Grigori Sinowjew und Karl Radek, die später den Stalinschen Säuberungen zum Opfer fielen. Die Reise verlief ohne Zwischenfälle.
"Man hat Lenin wie einen Pestbazillus in einem plombierten Waggon von der Schweiz nach Russland befördert," kommentierte später Winston Churchill die Zugfahrt durch Deutschland. In Petrograd, dem heutigen St. Petersburg, bereiteten Sympathisanten Lenin am 16. April einen begeisterten Empfang.
Lenin trieb seine Rückkehr aktiv voran
Sein Kampfgefährte Leo Trotzki stellte dazu fest:
"Als Lenin nach Russland zurückkehrte, begann die Revolution."
Mit freundlicher Unterstützung der deutschen Regierung, die Lenin direkt zum Brennpunkt des Geschehens befördert hatte. Der Mann der Tat, so der Historiker Jörg Baberowski, leitete anschließend ein neues Kapitel der russischen und der Weltgeschichte ein:
"Ohne Lenin hätte es keine Oktoberrevolution gegeben. Es gibt eben Situationen, in denen bestimmte Menschen etwas vorantreiben können, was andere nicht vorangetrieben hätten. Lenin wollte auf die Geschichte nicht warten."