Die Sendung ist eine Wiederhoung vom 28. Juni 2014
Alle überhörten die Warnungen. Kronprinz Franz Ferdinand. Seine Entourage. Die Sicherheitskräfte. Alle wussten, wie unruhig der Balkan war. Alle wussten, dass Serbien immer unverhohlener Ansprüche auf österreichisch-ungarisches Territorium erhob. Und dass es serbische Untergrundgruppen gab, die bereit waren, auch mit den Mitteln des Terrors um die Unabhängigkeit eines großserbischen Reiches zu kämpfen. Wie an diesem Sonntag, dem 28. Juni 1914, als Erzherzog Franz Ferdinand, der designierte Kaiser von Österreich und König von Ungarn, mit seiner Frau Sophie Sarajewo besuchte – in der Provinz-Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas sollte ein Truppenmanöver stattfinden. Ausgerechnet am Sankt Veitstag, dem Jahrestag der legendären Schlacht gegen die Türken auf dem Amselfeld, dem wichtigsten Gedenktag für serbische Nationalisten.
Die Kolonne fuhr auf einer Route, die in der Presse bekannt gemacht worden war. Und der Thronfolger saß mit seiner Frau in einem offenen Wagen. Der erste Attentäter schleuderte vom Straßenrand aus eine Handgranate auf das Auto des Thronfolgers.
"Auf der Hinfahrt warf ein Terrorist eine Bombe auf das erzherzogliche Auto. Diese Bombe fiel hinaus und explodierte unter dem folgenden Wagen."
Doch Franz Ferdinand setzte seinen Besuch fort – er ordnete lediglich an, nach der Visite im Rathaus eine andere Route zu nehmen. Aber die Order kam nicht beim ersten Fahrer der Kolonne an, erinnerte sich 40 Jahre später der Augenzeuge Graf Erbach-Fürstenau.
"Der im erzherzoglichen Auto den Hoheiten gegenüber sitzende Landeskommandierende sagte: Das ist ja falsch, wir sollen ja geradeaus fahren. Daraufhin stoppte die Autokolonne, und diesen Augenblick benutzte der Attentäter, um von der rechten Seite die tödlichen Schüsse auf die Hoheiten abzugeben."
Der Attentäter hieß Gavrilo Princip und gehörte einer serbischen Terrorzelle an. Es gelang ihm, zwei gezielte Schüsse abzugeben. Die erste Kugel traf die Herzogin im Unterleib – die zweite den Thronfolger am Hals. Sophie war sofort tot. Franz Ferdinand nur wenig später.
"Ich habe mit einigen anderen Herren des Gefolges den Erzherzog in das Zimmer des Oberkommandierenden hinaufgetragen. Dort wurde dann von ärztlicher Seite der eingetretene Tod festgestellt."
Vier Reiche gehen unter
Ein Königsmord. Ein Terrorakt, der eine politische Dynamik auslöste, die Europa binnen eines Monats in einen verheerenden Krieg stürzte. Als er vier Jahre später zu Ende ging, sollte in Europa nichts mehr sein, wie es vorher war: Vier Reiche gingen unter – das Osmanische Reich, die Habsburger K.u.K.-Monarchie, das russische Zarenreich, das deutsche Kaiserreich. Die politische Landkarte musste neu gezeichnet werden – bis weit in den Nahen und Mittleren Osten hinein, wo willkürlich Grenzen gezogen wurden, die bis heute umstritten sind. 15 Millionen Tote waren zu beklagen – bis heute gilt dieser Krieg in England oder Frankreich als "The Great War", als "La Grande Guerre", der Große Krieg. Der Erste Weltkrieg war die "europäische Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", wie der amerikanische Diplomat George F. Kennan später befand. Tatsächlich wirkte das Attentat von Sarajewo wie ein Brandsatz für einen Krieg, der hätte verhindert werden können – der aber nicht verhindert wurde, weil viele das nicht wollten.
Der australische Historiker Christopher Clark: "Das war ein wahnsinnig wichtiges Ereignis, ein traumatisches Ereignis für die damalige österreichische Staatsführung. Nicht, weil Franz Ferdinand der beliebteste Mensch auf der Welt war, er war nicht besonders beliebt, es ist nicht wie bei John F. Kennedy oder so was, die Leute sind nicht in Tränen in die Knie gefallen. Aber weil er die Zukunft dieses Staatswesens darstellte."
In dem Vielvölkerstaat des Habsburger Reiches war der Balkan der unruhige Hinterhof: Im ganzen Reich drifteten die Kräfte auseinander, überall rührten sich nationalistische und separatistische Bestrebungen – was Kaiser Franz-Josef zu der selbstironischen Bemerkung veranlasste, in seinem Reich gehe die Krise nie unter. Besonders die Serben machten mit ihren Rufen nach Unabhängigkeit und einem großserbischen Reich die Wiener Führung nervös – sie sah ihre Rolle als Ordnungsmacht auf dem Balkan zunehmend in Gefahr. Und dann: das Attentat.
Die Nachricht vom Tod des Thronfolgers und seiner Frau schlug in Wien ein wie eine Bombe. Der Anschlag spielte all jenen Kräften in Wien in die Hände, die schon lange ein Exempel statuieren wollten und für einen Präventivkrieg auf dem Balkan plädierten, sagt Richard Lein, Historiker an der Budapester Andrassy Universität.
"Das Problem ist, dass mit der Ermordung des Thronfolgers in Sarajewo einer der ganz wesentlichen moderierenden Faktoren in der österreichischen Innenpolitik wegfällt. Was nicht heißen soll, dass der Thronfolger grundsätzlich gegen einen militärischen Konflikt gewesen wäre, er ist allerdings gegen einen militärischen Konflikt gegen Serbien. Vor allem vor dem Hintergrund, dass man weiß, dass es ja entsprechende Bündnisabsprachen gibt: Serbien hat eine Militärkonvention mit Russland, Russland ist ein Verbündeter Frankreichs – d.h. schlimmstenfalls – und vom Schlimmsten musste man in diesem Fall sicherlich ausgehen – war klar, dass eine Kriegserklärung an Serbien einen gesamteuropäischen Konflikt entzünden könnte."
Bekannte Risiken
Natürlich weiß auch Franz-Josef um die Gefahr eines Flächenbrandes. Er kennt die Risiken und Nebenwirkungen des komplizierten Bündnissystems, das die europäischen Mächte geknüpft hatten – mit dem gegenseitigen Versprechen, sich im Fall des Falles militärisch beizustehen: die Triple Entente mit Frankreich, Großbritannien und Russland auf der einen Seite – die Mittelmächte mit dem deutschen Kaiserreich und Österreich/ Ungarn auf der anderen Seite.
Und dennoch ist der Kaiser in Wien bereit, alles auf eine Karte zu setzen: Genau einen Monat nach den Schüssen von Sarajewo erklärt Österreich/Ungarn Serbien den Krieg.
Und dennoch ist der Kaiser in Wien bereit, alles auf eine Karte zu setzen: Genau einen Monat nach den Schüssen von Sarajewo erklärt Österreich/Ungarn Serbien den Krieg.
"Jetzt sagt man: Jetzt lassen wir uns nicht mehr dreinreden, wir haben seit über dreißig Jahren dieses Problem mit unserem Nachbarn, mit Serbien am Hals, jetzt wird diese Chance, die sich durch den Fürstenmord bildet, im Wesentlichen genutzt, um hier ein für allemal Ordnung zu machen."
Allerdings wagt der greise Monarch in Wien keinen Alleingang – er hat sich des Beistands seines deutschen Bündnispartners versichert: Kaiser Wilhelm II. garantiert Österreich-Ungarn die bedingungslose Unterstützung des deutschen Kaiserreiches und stellt der Donaumonarchie damit einen Blankoscheck aus. Ein verhängnisvoller Schritt, meint Sönke Neitzel - er ist Professor für Internationale Geschichte an der London School of Economics and political Science.
"Ja, dieser Blankoscheck war natürlich aus heutiger Sicht eine diplomatische Eselei sondergleichen, aber die Deutschen verhalten sich aus meiner Sicht nicht anders als sich alle anderen verhalten. Sie haben sich vielleicht besonders dusselig angestellt, ...aber im Prinzip: Von der Grammatik, von der Logik, verhalten sie sich wie alle anderen Großmächte auch."
Eine Kettenreaktion
Die österreichische Kriegserklärung an Serbien und die deutsche carte blanche für seinen Verbündeten in Wien lösen eine Kettenreaktion aus, die binnen weniger Tage ganz Europa in den Kriegszustand versetzt: Russland springt Serbien bei und verkündet am 30. Juli 1914 die Generalmobilmachung. Am 1. August macht das deutsche Kaiserreich mobil und erklärt zunächst Russland den Krieg, dann Frankreich. Und als die deutschen Truppen auf dem Weg nach Frankreich in Luxemburg und in Belgien einfallen - wo sie sich schon in den ersten Tagen schwerer Kriegsverbrechen schuldig machen - tritt auch Großbritannien in den Krieg ein. Europa steht in Flammen. Und noch hundert Jahre danach fragen sich Historiker – wie konnte das passieren? Wäre dieser Krieg nicht vermeidbar gewesen? Wer trägt die Schuld? Kein Zweifel: Auch dieser Krieg hatte viele Väter – und seine Ursachen liegen weit vor 1914.
Sönke Neitzel: "Das müssen wir vor dem Hintergrund der internationalen Beziehungen sehen, vor dem Hintergrund des Hochimperialismus, vor dem Hintergrund des sozialdarwinistischen Denkens. – Ein Miteinander ist eben nicht mehr möglich – nein, man ist der Konkurrent des Anderen. Es kommt eben immer näher an einen Kriegsausbruch heran. Krieg wird noch als Mittel der Diplomatie gesehen, es sind vergiftete internationale Beziehungen und das Bemühen um den Frieden – das durchaus da war – das hat Risse bekommen in dieser Zeit."
Unter dem Eindruck eines glühenden Nationalismus war den Nationen die Vernunft abhandengekommen – und den Staatslenkern die Fähigkeit zur rationalen Interessenpolitik. Die Folge sei ein kollektives Angstsyndrom gewesen, schreibt Herfried Münkler in seinem Buch "Der große Krieg":
"Die Franzosen fürchteten ihre Marginalisierung, die Russen sorgten sich um Einflussverlust, Österreich-Ungarn bangte um seinen Großmachtstatus, in Großbritannien herrschten Niedergangsängste, und in Deutschland litt man an der Einkreisungsobsession."
Insgesamt ein Klima, das Konferenzen diskreditierte, Kompromisse immer unmöglicher machte und schließlich den Krieg als politische Option zuließ. Manfried Rauchensteiner, Militärhistoriker aus Wien, sagt: Dem Krieg ging die Bankrotterklärung der Diplomatie voraus:
"Das Miteinander-Sprechen hat eigentlich recht gut funktioniert im 19. Jahrhundert. Das war eine Folge des Wiener Kongresses, da gab es das sogenannte europäische Konzert, da gab es die Konferenzdiplomatie. Nur: Sie hat sich totgelaufen. Gerade am Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Wille, mit einander zu sprechen, einfach nicht mehr vorhanden gewesen."
Überforderte Eliten
Die politisch Verantwortlichen, die Führungseliten in den europäischen Hauptstädten, waren komplett überfordert – davon ist der australische Historiker Christopher Clark überzeugt. Beseelt von nationalistischem Pathos, verstrickt in heimtückische Bündnisverpflichtungen und zunehmend gefangen in einer kruden Kriegslogik hätten sie schlicht die Komplexität der Ereignisse und ihrer Deutungen nicht mehr überblickt. So ging dem Gemetzel auf den Schlachtfeldern auch ein kommunikatives Desaster voraus.
"Es ist diese europäische Dimension, die auch für die damals Handelnden, die Zeitgenossen, so wahnsinnig verwirrend war. Also die Undurchschaubarkeit der damaligen Verhältnisse und die Tatsache, dass man es mit fünf bzw. sechs Großmächten zu tun hatte, mit mehreren kleinen Akteuren auf dem Balkan, mit dem türkischen, dem ottomanischen Reich, also allein die Interaktionen zwischen diesen Exekutiven ergibt eine ungeheure Komplexität."
Hinzu kam im Vorfeld des Krieges eine unheilvolle Stimmungslage in der Bevölkerung, die zunehmend an Eigendynamik gewann: Das laute Säbelrasseln auf der politischen Bühne wurde begleitet von frenetischem Beifall im Parkett. Einmal abgesehen von einigen Friedensdemonstrationen in Berlin in den ersten Kriegstagen des August 1914, versetzte sich die Öffentlichkeit besonders in Deutschland in einen geradezu hysterischen Kriegstaumel – begleitet wurde diese kollektive Selbstmobilisierung durch patriotische Gedichte von Intellektuellen, die dem Kriegsausbruch entgegenfieberten, ihn zum reinigenden Gewitter verklärten und zum Motor aller gesellschaftlichen Erneuerung. So schrieb etwa der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig:
"Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich bekennen, dass in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen konnte. Wie nie fühlten die Tausende und Hundertausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten tun sollen: dass sie zusammengehören."
"Eine herrliche Reise"
Tatsächlich rollte die Kriegsmaschinerie an. In Deutschland machte sich ein Millionenheer auf den Weg nach Frankreich, um in einem riesigen Truppenaufmarsch binnen 40 Tagen gefechtsbereit zu sein – der als genial apostrophierte Schlieffenplan sah vor, dem Zweifrontenkrieg mit Frankreich im Westen und Russland im Osten Deutschlands aus dem Weg zu gehen, indem Frankreich im Handstreich geschlagen werden sollte. "Weihnachten sind wir wieder zuhause", versprach die Propaganda – und nicht nur die Straße glaubte das fahnenschwingend und hütewerfend. Auch die Soldaten in ihren feldgrauen Uniformen glaubten es. Begeistert schrieben sie noch auf der Fahrt an die Front nach Hause, wie z.B. der 35-jährige Hauptmann Heinrich von Helldorf am 10. August an seine Frau:
"Es ist eine herrliche Reise – wunderbares Wetter. Wir sitzen lange Strecken auf den Maschinengewehren, die auf den Wagen stehen. Wie einer sagte: Man sieht nochmals alles, was man verteidigen soll. Unendliche Mengen von guten Dingen auf den Verpflegungsstationen. Enorme Begeisterung überall. Wenn Du noch dabei wärst, wäre es die schönste Reise, die ich jemals gemacht habe."
Drei Monate später war Heinrich von Helldorf tot – er fiel am 11. November 1914 in Flandern. "Die Hitze des August" wurde die Begeisterung zu Kriegsbeginn später genannt – von ihr war auch der 20-jährige Soldat Gotthart Dentler beseelt.
"Liebe Eltern, am 2. August morgens, 3 Uhr, dann endgültig Abmarsch, nachdem unser Major eine kurze, markige Ansprache gehalten hatte. Und um sechs Uhr verließen wir Koblenz unter Absingen froher Lieder Richtung Trier. An den Wagen hatten wir allerhand Ulk angemalt, so: 'Auf nach Paris zum Bundesschießen', 'Franzosen, Belgier, Serben – ihr alle müsst jetzt sterben'."
Aber der Schlieffen-Plan ging nicht auf - er rechnete nicht mit menschlichen Unzulänglichkeiten wie der kompletten Erschöpfung der Soldaten nach tagelangen Gewaltmärschen. Überhaupt entpuppte er sich nicht als genial, sondern als fatal: Bereits im September 1914 hatte sich der Vormarsch festgefressen, und zu Weihnachten gruben sich frierende Soldaten zwischen dem Ärmelkanal und der Schweizer Grenze in nasskalte Unterstände und Schützengräben ein. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich die ganze Katastrophe ab – man hätte ihr durch Verhandlungen, durch Kompromisse, durch politische Lösungen noch entgehen können. Aber die Politik hatte das Heft des Handelns längst aus der Hand gegeben - das Militär hatte das Primat der Macht an sich gerissen.
Sönke Neitzel: "Ja, eigentlich hätte es rum sein müssen. Es gab keine Munition mehr, keiner wusste, wie es weitergeht, alle Anfangspläne waren gescheitert. Und man war völlig am Ende seines Lateins. In der frühen Neuzeit hätte man wahrscheinlich opulent gespeist, man hätte sich auf Unentschieden geeinigt und wäre nach Hause gegangen. Das ist jetzt anders. Man kämpft gegen das ultimativ Böse, da kommt eine Schärfe rein, eine Rhetorik des totalen Krieges, und der Krieg kann nur beendet werden – auch weil er so viele Opfer forderte - wenn er mit dem Sieg der eigenen Sache oder mit einem Siegfrieden endet."
Tiefe Spuren in der Seele der Völker
Stattdessen: Verdun. Fort Douaumont. Die Schlachten an der Somme. Ypern. Der Gaskrieg. Der Luftkrieg. Der U-Bootkrieg. Massentod, Verwundungen, entstellte und traumatisierte Menschen überall – dieser Krieg hinterließ tiefe Spuren in der Seele der Völker. Und: Wer trug die Schuld? Am Ende waren es 50, 60 alte Männer in deutschen, österreichischen, russischen, französischen oder britischen Uniformen, die sich ihrem falsch verstandenen Ehrgefühl mehr verpflichtet fühlten als ihrem Gewissen, und die Hochmut und Machthunger wichtiger nahmen als ihre Verantwortung. Der Historiker Michael Stürmer zog in einem Essay für den Deutschlandfunk dieses knappe Resumée:
"Man kann die Machteliten nicht freisprechen von dem Vorwurf strategischen Leichtsinns, fatalistischen Geschehenlassens, unzureichender Lagebeurteilung und nationalistischer Blindheit."
Als der Krieg endete, hatte Europa sein Gesicht verändert. Kaiser und Könige wurden vom Thron gefegt. Ihre Reiche gingen unter. Neue Staaten entstanden. Neue Regierungsformen, neue Gesellschaftsformen kamen auf: Demokratie, aber auch Kommunismus, Faschismus. Der Kontinent kam nicht zur Ruhe – und nur wenig später sollten sich all die Spannungen, die der Erste Weltkrieg hinterlassen hatte, in der beispiellosen Gewaltorgie des Zweiten Weltkrieges entladen. Der Historiker Christopher Clark sagt: Ohne den Ersten Weltkrieg wäre Hitler, wäre Stalin, wäre der Holocaust, wäre der Gulag nicht vorstellbar gewesen. Der Erste Weltkrieg war die Giftdosis, die ein ganzes Jahrhundert vergiftete.
"Was Europa sich da angetan hat: Dieser Krieg hat das ganze Jahrhundert verstellt."
Heute ist wieder von Krisen in Europa die Rede. Im Zeichen der Finanzkrise sind alte Nationalismen wieder aufgebrochen. Die Fliehkräfte innerhalb der Europäischen Union nehmen zu, die politischen Gemeinsamkeiten immer weiter ab. Das Europa der 28 zieht nicht mehr an einem Strang. Und beobachtet hilf- und ratlos, wie an seinen Außengrenzen ein neuer regionaler Konfliktherd entstanden ist: Russlands Präsident Putin versucht, auf der Krim, in der Ukraine und womöglich darüber hinaus die Scherben des alten Sowjetimperiums zusammenzuklauben, die der Kollaps der UdSSR hinterlassen hat.
100 Jahre nach dem Attentat von Sarajewo stellt sich die Frage nach den Parallelen – nach altem und neuem Nationalismus, nach alten und neuen imperialen Fantasien, nach der Kriegsgefahr damals und der Kriegsgefahr heute. Sönke Neitzel, Professor für internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science, gibt diese Antwort: "Das ist immer so eine Sache mit den Parallelen. Natürlich gibt es Krisen, Phänomene, jetzt, 2014, die wir aus der Geschichte schon kennen. Regionale Krisen, von denen wir denken, hoffentlich wird daraus kein globaler Konflikt. Mir ist das zu stark betont worden. Die Schlussfolgerung, die Lehre aus der Juli-Krise wäre: Wir müssen den anderen verstehen – wir müssen die Perzeption des anderen verstehen."