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Vor 100 Jahren
Die erste Frau auf dem Matterhorn

Trotz einiger professioneller Alpinistinnen ist das Bergsteigen bis heute eine Männerdomäne. Geradezu exotisch muteten die Frauen an, die Mitte des 19. Jahrhunderts das Bergsteigen für sich entdeckten. Zu ihnen gehörte die Britin Lucy Walker, die vor 100 Jahren starb. Sie bestieg als erste Frau das Matterhorn.

Von Anette Schneider |
    Blick auf das Matterhorn.
    Am 22. Juli 1871 bestieg Lucy Walker als erste Frau das Matterhorn. (Andreas Burmann)
    "Was man braucht, um auf das Matterhorn hochzugehen: Sicher mal einen Klettergurt mit verschiedenen Schlingen, Karabinern, dann braucht man auch gute Schuhe. Und man braucht sicher auch einen Pickel für oben, weil oben, ab der Schulter, geht man im Schnee. Dann braucht man Steigeisen, einen Helm, etwas zum Trinken, etwas zum Essen, und es ist gut, wenn man ein bisschen Kondition hat."
    Die Schweizerin Denise Wenger kennt sich aus. Sie ist professionelle Bergsteigerin. Modernste Technik und Kleidung sorgen heute für ein gewisses Maß an Sicherheit am Berg. Als im Sommer 1871 folgende Meldung um die Welt ging, war das noch ganz anders:
    "22. Juli 1871. Die Britin Miss Lucy Walker hat als erste Frau der Welt den Gipfel des Matterhorns erstiegen."
    Lucy Walker musste sich in streng viktorianischer Garderobe auf den 4.478 Meter hohen Gipfel kämpfen. Da Frauen das Tragen von Hosen verboten war, trug sie einen bodenlangen Rock, als sie den Berg bezwang - nur sechs Jahre, nachdem ihr Landsmann Edward Whymper als erster Mensch das Matterhorn erklommen hatte, und im Wettlauf mit der US-amerikanischen Bergsteigerin Meta Brevoort.
    Geboren wurde Lucy Walker 1836 in Liverpool. Über ihr Privatleben ist kaum etwas bekannt. Ihr Vater Francis Walker war ein wohlhabender Händler und - ein leidenschaftlicher Bergsteiger. Jedes Jahr reiste er mit seinem Sohn zum Klettern in die Alpen. Lucy dagegen konnte kaum gehen. Sie litt an Rheuma. Nach jahrelangen Qualen riet ein Arzt:
    "Miss Walker has to walk!”
    Lucy Walker war 22 Jahre alt, als sie erstmals Vater und Bruder in die Alpen begleitete. Sie wanderte und die Männer stiegen auf Berge. Dann packte sie der Ehrgeiz: Sie begann, ebenfalls zu klettern - und war nicht mehr zu bremsen.
    "Sie unternahm 98 Expeditionen, nur drei misslangen, oftmals war sie die erste Frau auf dem Gipfel! Sie schaffte die Erstbesteigung des Balmhorns und die vierte des Eigers, Letztere mithilfe von Champagner und Biskuittorte gegen ihre chronische Höhenkrankheit", schreibt Ed Douglas in seinem Buch "Auf den Spuren großer Alpinisten".
    Empörung über die bergsteigende Frau
    Die Öffentlichkeit reagierte empört. Eine Frau aus gut situiertem Hause, die entschlossen und unter Aufbietung enormer körperlicher Kräfte in Begleitung fremder Männer - wie es die Bergführer waren - gefährliche Gipfel erklomm, katapultierte sich ins gesellschaftliche Abseits. So ist es auch kein Zufall, dass es weder von Lucy Walker noch von anderen frühen Bergsteigerinnen eigene Tourenberichte gibt. In ihrem Buch "Erste am Seil" schreibt Caroline Fink:
    "Einerseits fürchteten sie um ihren Ruf als Damen, andererseits verweigerten Zeitschriften Publikationen von Frauen. Was dazu führte, dass viele ihrer Leistungen vergessen gingen oder zumindest schwieriger zu rekonstruieren sind als bei ihren Kollegen."
    Dabei gibt es bergsteigende Frauen, seit es den Alpinismus gibt. Die Französin Marie Paradis etwa kletterte bereits 1808 auf den Montblanc. Lucy Walker jedoch gilt als die erste passionierte Bergsteigerin. Über 20 Jahre lang ging sie immer wieder auf Exkursionen. Und die Besteigung des Matterhorns machte sie zur bekanntesten Alpinistin ihrer Zeit. Denise Wenger:
    "Ich finde es genial, was sie geleistet hat. Sie hat sich gegen die Gesellschaft gestellt. Weil: Der Alpinismus bei den Frauen war überhaupt nicht bekannt. Für das habe ich auch schon Respekt. Und dass sie da hochging mit Flanellrock und so, das ist unglaublich!"
    Irgendwann löste Lucy Walker dann auch das Problem mit der aberwitzigen Kleiderregel. In seinem Buch "Über alle Berge" schreibt Sebastian Herrmann:
    "Sie startete die Tour in einem Rock. Sobald sie aber außer Sichtweite gestiegen war, entledigte sie sich des hinderlichen Kleidungsstücks, deponierte es hinter einem Felsen und kletterte in Flanellhosen weiter."
    Erster Bergsteigerinnenverein
    Lange blieb das Bergsteigen Männerdomäne, wurde die weibliche Konkurrenz ignoriert. Sogar die Alpinen Klubs blieben den Frauen verschlossen. 1907 gründeten britische Bergsteigerinnen deshalb ihren ersten eigenen Verein, deren Co-Vorsitzende Lucy Walker von 1913 bis 1915 wurde. Immer wieder reiste die in Liverpool lebende, mittlerweile hochbetagte Dame auch nach Zermatt, wo sie mit Freunden von einst wanderte. Am 10. September 1916 starb Lucy Walker, die erste passionierte Bergsteigerin der Welt. Sie wurde 80 Jahre alt.