Aufwachen aus der Passivität, gemeinschaftlich handeln, gegen nationalistische Politik aufstehen. Das ist kein Privileg der Gegenwart. Nach dem Ersten Weltkrieg, am 8. Juni 1919, schlossen sich Literaten und Künstler zur Darmstädter Sezession zusammen.
Es handelte sich dabei nicht um eine jener Abspaltungen von traditionellen Künstlergenossenschaften, wie es sie schon Jahrzehnte zuvor in München, Wien und Berlin gegeben hatte – Sezessionen eben, die sich allein gegen ein veraltetes Kunstverständnis wandten.
Die Darmstädter Sezession war unverhohlen politisch. Ihr Gründungsmanifest ist expressionistisch, ein Aufruf.
"Die radikalen Künstler Darmstadts und der Peripherie haben sich zu einer Sezession zusammengeschlossen, haben die längst erforderliche Reinigung von bourgeoiser Verschmutzung vollzogen. Das öchsische Niveau der im Augenblick aufgetanen Ausstellungen zeigt die Notwendigkeit dieser Gründung an. Zudem riskiert der soeben der Lebensgefahr entronnene Bürger die neue Kunst zu boykottieren. Die Abwehr erfordert schärfste Opposition. (...) Die flugsandverschütterte Kultur Hessens mag verderben. Hier schießen die neuen, die zukünftigen Kräfte zusammen. Nun mag eine sozialistische Regierung zeigen, auf wen sie baut."
Durch Fronterlebnisse zu Pazifisten geworden
"Der Krieg ist zu Ende 1918, es kommt eine politische Grauzone, Arbeitsräte für Kunst entstehen. Die haben alle gedacht, und das war für die Darmstädter genauso wie für die Dresdener oder die Hannoveraner, die haben gedacht, jetzt übernehmen die Schriftsteller, die Dichter das politische Feld. (...) Und dann kam die Ausrufung der Republik: Philipp Scheidemann (...), politisch war eben tatsächlich die parlamentarische Demokratie da. Das war ja durchaus etwas, was die jungen Leute, die Hitzköpfe mittragen konnten."
Claus Netuschil ist der Chronist der Darmstädter Sezession. Der Galerist und Antiquar sammelt seit den 1970er-Jahren Dokumente zu dem Künstlerbund. Die Keimzelle der Darmstädter Sezession hieß "Die Dachstube" und war anfangs ein Kreis von Schülern, die Gedichte schrieben und hektografierte Flugblätter herausgaben. Die jungen Intellektuellen wurden durch ihre Fronterlebnisse zu Pazifisten und zu engagierten Verfechtern einer politischen Kunst.
"Der Kreis wurde immer, immer größer. 'Die Dachstube' war von '16 bis eigentlich '18, und danach anschließend kam 'Das Tribunal' in zwei Jahrgängen, eine der dichten und wunderbaren Zeitschriften, wie sie diese Zeit sehr häufig kennt, in Dresden, in Berlin, in München es gibt einen Haufen von diesen literarisch-politisch orientierten Zeitschriften."
Auflösung bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten
Das Besondere an der "Dachstube" und der Folgepublikation, "Das Tribunal", war ihre Reichweite. Dank der Kontakte des Darmstädter Schriftstellers Kasimir Edschmid schrieben Henri Barbusse und René Schickele für die Hefte, Frans Masereel lieferte Illustrationen, wie etwa die eines Soldaten, der sein Gewehr über dem Knie zerbricht, während sich junge Rekruten erlöst in die Arme fallen.
Edschmid war es auch, der mit dem Maler Carl Gunschmann die Darmstädter Sezession gründete, und dem eloquenten Autor gelang es ebenfalls, namhafte Maler wie Ludwig Meidner oder Max Beckmann zu werben. Überregionale Bedeutung erlangte die Künstlergruppe durch die Großausstellung "Deutscher Expressionismus Darmstadt 1920".
"Die Sezession hat dann verantwortlich gezeichnet für eine riesige Ausstellung auf der Mathildenhöhe, deutscher Expressionismus. (...) Eine Ausstellung mit rund 700 Arbeiten von Picasso und Kandinsky, Sie können an Namen der zeitgenössischen Künstlerschaft Europas aufzählen, was Sie wollen, das war in dieser Ausstellung vertreten – mittenmang alle Darmstädter."
Darmstadt sollte wie zur Zeit des Jugendstils wieder eine Rolle spielen im Konzert der Kunststädte, und für eine Weile ging dieser Wunsch auch in Erfüllung. Doch zog sich Kasimir Edschmid 1921 aus der Leitung der Sezession zurück. Der Expressionismus hatte für ihn den Stachel verloren. Die Darmstädter Sezession, zusammengehalten von Carl Gunschmann, organisierte weiterhin Frühjahrs- und Herbstausstellungen, bis dies mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten unmöglich wurde.