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Vor 100 Jahren
Die Veröffentlichung der "Dolchstoßlegende"

Die sogenannte Dolchstoßlegende wurde kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges durch einen Zeitungsartikel in Umlauf gebracht. Sie besagte, dass das deutsche Heer um den Sieg gebracht wurde - wahlweise von den Bolschewiken, Juden oder anderen Gruppen. Ihre Auswirkung auf die Politik der Nazis war enorm.

Von Bernd Ulrich |
    Ein rot gekleideter Mann stößt einem Soldaten ein Messer in den Rücken. Illustration zu einem Wahlplakat der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) für die Reichstagswahlen am 7.12.1924.
    Die "Dolchstoßlegende" wurde von verschiedenen Seiten instrumentalisiert (picture-alliance / akg-images)
    "In anderer Form habe ich so ziemlich überall, in den verschiedensten Kreisen dieselben Ansichten gefunden, wie General Maurice sie aussprach. Was die deutsche Armee betrifft, so kann die allgemeine Ansicht in das Wort zusammengefasst werden: Sie wurde von der Zivilbevölkerung von hinten erdolcht."
    Es war eine kleine Sensation, was die "Neue Zürcher Zeitung" am 17. Dezember 1918 zu berichten wusste. Der Weltkrieg hatte kurz zuvor mit der Niederlage des Deutschen Kaiserreichs geendet – und ein General, ein englischer zumal, behauptete nun, das deutsche Heer wäre um seinen Sieg gebracht worden. Die Schuldigen dafür saßen in der Heimat; es waren, je nach Bedarf, die Sozialdemokraten, die Juden, die Bolschewiken, das schlappe Bürgertum, die Frauen oder auch nur die zunehmende Erschöpfung und der Hunger, die den "Dolch" geführt hatten.
    Dabei hatte der NZZ-Journalist lediglich seine Lektüre zweier Artikel des englischen Generalmajors Frederick Maurice zusammengefasst – oder besser: interpretiert und zugespitzt. Jedenfalls dementierte der General, zugleich Vorsitzender der britischen Waffenstillstandskommission, vehement die ihm zugeschriebene Aussage:
    "Ich habe niemals an irgendeiner Stelle der Meinung Ausdruck verliehen, dass der Kriegsausgang der Tatsache zu verdanken ist, dass das deutsche Heer vom deutschen Volk rückwärts erdolcht worden sei. Im Gegenteil habe ich immer die Meinung vertreten, dass die deutschen Armeen an der Westfront am 11. November 1918 eines weiteren Kampfes nicht mehr fähig waren."
    General distanzierte sich von Zitat
    Das verhinderte freilich nicht, dass das Bild des von "hinten erdolchten Heeres" begierig in Deutschland aufgenommen wurde. Friedrich Ebert , am 11. Dezember 1918 die heimkehrenden Soldaten in Berlin begrüßend:
    "Kein Feind hat Euch überwunden. Erst als die Übermacht der Gegner an Menschen und Material immer drückender wurde, haben wir den Kampf aufgegeben. Erhobenen Hauptes dürft ihr zurückkehren."
    Aber von der Schuld der Heimat war noch keine Rede – das sollte sich nun ändern. Vor allem Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, der mythenumwobene "Held von Tannenberg", trug dazu bei. Er wurde am 18. November 1919 von einem Untersuchungsausschuss zu den Ursachen der Niederlage befragt. Hindenburg redete zwar so "langweilig wie eine abgespielte Grammophonplatte", so ein Ohrenzeuge. Aber was er ausführte, schien "mit Dynamit geladen":
    "Ein englischer General sagte mit recht: Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden. Den guten Kern des Heeres trifft keine Schuld. Wo die Schuld liegt, ist klar erwiesen. Bedurfte es noch eines Beweises, so liegt er in dem angeführten Ausspruche des englischen Generals und in dem maßlosen Erstaunen unserer Feinde über ihren Sieg."
    Hindenburg machte Legende offiziell
    Es war dieser Auftritt Hindenburgs, der den angeblichen "Dolchstoß" für viele Deutsche quasi offiziell beglaubigte. Der Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta, Verfasser einer Hindenburg-Biografie:
    "Und deswegen besaß die Aussage dieses Hindenburg ein besonderes Gewicht, weil die Verantwortung damit auf eine nahezu groteske Weise abgewälzt wurde von den Militärs, die den Krieg verloren hatten, auf bestimmte Politiker, auf eine kriegsmüde Heimat."
    Der "Dolchstoß"-Vorwurf war allgegenwärtig. Ergänzt durch die Ablehnung des Versailler "Schand-Diktats" und überwölbt vom verbreiteten Hass auf die "Novemberverbrecher" der Revolution. Dagegen kam auch ein republiktreuer Offizier wie der letzte Generalquartiermeister des alten Heeres, General Wilhelm Groener, nicht an:
    "Das größte Unrecht wäre es, das deutsche Volk zu schmähen, weil es am Schluss des verlorenen Weltkrieges zusammengebrochen ist. Letzten Endes sind wir der fortgesetzten Selbsttäuschung militärisch erlegen."
    Auswirkungen auf Drittes Reich
    Wie präsent der vermeintliche "Dolchstoß" blieb, sollte die Politik der Nationalsozialisten zeigen. Vor allem während des Zweiten Weltkriegs wurde alles getan, um etwa eine Destabilisierung der Heimat zu verhindern. Letztlich diente vor diesem Hintergrund die Ausplünderung Europas auch dem Ziel, die Lebensmittelversorgung an der deutschen "Heimatfront" zu gewährleisten.
    Hatte doch der Hunger der Zivilbevölkerung im Ersten Weltkrieg zum Zusammenbruch der Heimatfront beigetragen. Insofern haben die Legende vom Dolchstoß und die Erinnerung an die nie akzeptierte Niederlage erhebliche Auswirkungen auf die Politik des Dritten Reiches gehabt – in der Vorbereitung und in der Durchführung des Zweiten Weltkrieges.