"Viele Wolgadeutsche sind bis heute stolz darauf, dass sie eine Republik hatten", erzählt der Historiker Alfred Eisfeld. "Dass sie, so wie sie glaubten, gleichberechtigt waren mit den anderen Völkern der Sowjetunion, dass sie ein Theater, Hochschulen hatten, einen Verlag, den Staatsverlag der Wolgarepublik."
An die mittlere Wolga, in die Gegend von Saratow, waren sie Ende des 18. Jahrhunderts gekommen: 25 000 Deutsche, viele Bauern, die einer Einladung der Zarin Katharina der Großen gefolgt waren. Sie sollten die weiten Steppengebiete besiedeln und die Angriffe östlicher Reitervölker abwehren. Erst den Nachfahren gelang es, richtig heimisch zu werden. 1914 gab es an der Wolga zweihundert deutsche Kolonien mit mehr als 400 000 Einwohnern. Sie alle wurden während des Ersten Weltkrieges als Feinde angesehen. Verständlich, dass viele Wolgadeutsche die Februarrevolution 1917 und den Sturz des Zaren begrüßten: Sie hofften auf ein neues demokratisches Russland.
Eisfeld: "Im Zuge dieser Entwicklung im Jahre 1917 kam es in den Wolgakolonien zu einer wirklichen Volksbewegung für die Erlangung einer Selbstverwaltung in allen kulturellen und wirtschaftlichen Fragen im Bestand eines russischen Staates."
Arbeitskommune statt Selbstverwaltung
Die Hoffnungen zerschlugen sich, als im November 1917 die Bolschewiki an die Macht kamen. Sie stellten den Wolgadeutschen eine Selbstverwaltung nur zur Etablierung der Sowjetmacht in Aussicht. Der Volkskommissar für Nationalitätenfragen, Josef Stalin, schickte dazu eigene Kader, zuverlässige Sozialisten, an die Wolga. Einer von ihnen war der spätere Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Ernst Reuter, der als Kriegsgefangener Russisch gelernt hatte. Er stand ab Mai 1918 zusammen mit dem Österreicher Karl Petin einem neu gegründeten "Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet" vor. Es sollte eine sowjettreue Verwaltung aufbauen, die bürgerlichen Institutionen liquidieren und Getreide beschaffen - auch mit Waffengewalt:
"Es gab Tote, es gab Aufstände, gerade auf der so genannten Bergseite, d. h. dem Westufer der Wolga", berichtet Eisfeld. "Die Zentralmacht in Moskau hat aber schon wirklich bedeutende Anstrengungen unternommen, um diese Bauern unter Kontrolle zu kriegen. Und dazu gehörte ganz eindeutig die Gründung eines Autonomen Gebietes der Wolgadeutschen."
Am 19. Oktober 1918 unterzeichnete Lenin in Moskau das "Dekret über die Autonomie des Gebiets der Wolgadeutschen", das den Siedlern de facto nur wenig Selbständigkeit gewährte. Das Gebiet sollte den "Charakter einer Arbeitskommune" haben. Punkt 7 besagte immerhin:
"Das kulturelle Leben der deutschen Kolonisten: Der Gebrauch ihrer Muttersprache in den Schulen, in der örtlichen Verwaltung, im Gericht und im öffentlichen Leben unterliegt gemäß der Sowjetverfassung keinerlei Einschränkung."
Wegen angeblicher Kollaboration deportiert
Die Arbeitskommune umfasste 214 Dörfer und drei Verwaltungsbezirke mit dem Zentrum Saratow. 1924 wurde sie zur "Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen" hochgestuft, was eine rechtliche Gleichstellung mit den anderen Sowjetrepubliken bedeutete.
Die Bewohner hatten unter der kommunistischen Herrschaft schwer zu leiden. Zwei große Hungersnöte in den frühen 1920er Jahren gingen auf Enteignungen und Beschlagnahmungen zurück. Nach schlimmen Jahren stalinistischen Terrors folgte die größte Katastrophe: der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941. Wegen angeblicher Kollaboration wurden nahezu alle Wolgadeutschen auf Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets nach Kasachstan und Sibirien deportiert.
Eisfeld: "Ihnen wurde vorgeworfen, sie hätten zehntausende von Spionen und Diversanten in ihrer Mitte versteckt und würden auf Befehl deutscher Stellen Anschläge im Rücken der Roten Armee durchführen. Dieses war erfunden."
Die Wolgadeutsche Republik wurde noch Ende August 1941 per Dekret aufgelöst.