Es ist das Jahr 1930: Der Dichter der "Dreigroschenoper", Bertolt Brecht, singt und schnarrt auf die Schellackplatte die Moritat des Mackie Messer. Jahrzehnte später lockt Giorgio Strehler, der junge Theaterregisseur in Mailand, Brecht an sein Piccolo Teatro, zeigt ihm die italienische Version der "Dreigroschenoper". Brecht ist für Strehler die Instanz, der Initiator eines epischen, nicht einfühlenden Theaters. Nur dort entsteht die kritische Distanzhaltung, der berühmte Verfremdungseffekt.
Der Regisseur als Theaterrevolutionär, der Sozialromantiker und Italiener als Europäer: Giorgio Strehler verkörperte das alles. Er befeuerte die literarischen Emotionen und die Bänkelsänger-Lust der Künstler. Ein heißblütiger Idealist – der forderte: "Man muss dem Theater auf der ganzen Welt den Platz und die Möglichkeit geben, zu freierem, weniger durch Regeln eingeengten Leben, um mit mehr Herz, Vitalität, Liebe arbeiten zu können. Das ist sehr schwierig, ich weiß es."
Brecht war begeistert
Giorgio Strehler gelang es, dem schwierigen Bert Brecht, ein halbes Jahr bevor dieser starb, SEINE "Dreigroschenoper" vorzuführen, an Strehlers 1947 in Mailand gegründetem Piccolo Teatro. Und merkwürdig – Brecht akzeptierte, nein, er bewunderte die Interpretation seines Stücks durch die virtuose Mailänder Kompanie. Strehler habe, meinte Brecht, sein Werk "zum zweiten Mal geschaffen". Das Piccolo Teatro, einem Kino eingepflanzt, war das erste staatlich finanzierte Sprechtheater Italiens. Brecht, dessen Theater in Europa damals umkämpft war, blieb immer im Zentrum von Strehlers Arbeit, sagte er später:
"Ohne Frage, für mich ist Brecht der bedeutendste Dramatiker unserer Epoche. (...) Ich kann über diejenigen, die das nicht erkennen wollen, nur lachen. (...) Sie erkennen Brechts Größe als Klassiker an, aber nicht seine Wirkungskraft in der Gegenwart."
Perfekte Technik der Commedia dell’arte
Geboren wurde Giorgio Strehler in Triest, am 14. August 1921, in eine bunte Familiensituation: der Vater Österreicher, die Mutter Slawin, Großmutter Französin. Bei ihm zu Hause sei Europa schon integriert gewesen, meinte Strehler. Den Weltkrieg verbrachte er in der Schweiz, in Genf entdeckte er das Theater. Nach Italien zurückgekehrt, wurde das Piccolo Teatro di Milano Strehlers Welt. Das "Mekka der Theaterkünste" nannte man das Piccolo damals. Ganz Europa bewunderte Strehlers perfekte Technik der Commedia dell’arte in Goldonis buffonesk gelenkigem "Diener zweier Herren". Oder seine Meisterregie zu Brechts "Leben des Galilei". Strehler inszenierte in Wien, Zürich und Hamburg, bei den Salzburger Festspielen seine Shakespeare-Mixtur "Das Spiel der Mächtigen". Und Oper, in Salzburg Mozarts "Entführung" und die "Zauberflöte", Verdi an der Mailänder Scala.
Giorgio Strehlers Inszenierung von Verdis Historiendrama "Simon Boccanegra" stand für die künstlerische Übereinkunft mit Claudio Abbado, dem Dirigenten der Mailänder Scala. Strehlers "humanistischer Realismus" auf dem Theater blieb sein Erkennungszeichen - bis zu seinem Tod am Weihnachtstag des Jahres 1997 in Lugano. Es war für ihn ebenso bestimmend wie einst die Initialzündung seiner Mailänder Begegnung mit Bert Brecht. Von ihm hatte er etwas Wichtiges erfahren: das soziale Bestreben aller Theaterkunst.