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Vor 100 Jahren geboren
Henry Ries - Fotograf der deutschen Nachkriegszeit

Mit seinen Bildern von der Berliner Blockade 1947/48 wurde Henry Ries weltberühmt. Der jüdische Fotograf wurde vor 100 Jahren in Berlin geboren, musste dann aber nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in die USA fliehen. Während dort auch sein übriges Werk gewürdigt wurde, ist es in Deutschland bis heute kaum bekannt.

Von Anette Schneider |
    Eine Frau geht durch die Ausstellung des Fotojournalisten Henry Ries im Deutschen Historischen Museum in Berlin.
    Ausstellung des Fotografen - im Hintergrund ein Bild der "Rosinenbomber" (AFP / Barbara Sax)
    1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zog der US-amerikanische Soldat Henry Ries mit der Kamera durch Berlin: Er fotografierte Trümmerfrauen, die inmitten zerbombter Straßenzüge Steine sortieren. Ein sich drehendes Kettenkarussell vor der Brandruine des Stadtschlosses. Und, drei Jahre später, Kinder auf einem Schuttberg am Flughafen Tempelhof[*], die während der Berliner Luftbrücke einem landenden Versorgungsflugzeug der US-Armee zuwinken. Vor allem diese Aufnahme eines "Rosinenbombers" machte Ries berühmt. In Deutschland wurde sie zur Ikone des Kalten Krieges.
    Henry Ries wurde am 22. September 1917 als Heinz Ries in einem wohlhabenden, jüdisch-liberalen Elternhaus in Berlin geboren. Schon als Kind spielte er hervorragend Klavier und wusste: Er wollte Dirigent werden. Doch die Machtergreifung der Nationalsozialisten zerstörte seine Pläne. Ein Studium wurde unmöglich. Und, so erinnerte sich Ries 1994 in einem Interview: "Von da an ging es dann bergab bei mir. Mein Vater war Mitinhaber einer Wäschefabrik, die Pleite ging. Er war nicht enteignet, aber sie ging schon Pleite, weil ja keiner mehr die Sachen kaufte von einer jüdischen Fabrik."
    Konfrontation mit den NS-Verbrechen
    Ende 1937 floh der 20-Jährige mit einem Freund Richtung USA, erhielt 1938 die Einreisegenehmigung und erreichte das von der Weltwirtschaftskrise geprägte New York. "Es war furchtbar. Das war die deprimierendste Zeit meines Lebens. Also, man konnte keine Arbeit finden! Dann kam der Krieg. Also: In Amerika begann der Krieg. Und ich wollte mich freiwillig melden. Ich wollte doch Hitler besiegen!"
    Porträt des Fotografen Henry Ries
    Henry Ries im April 1984 (picture-alliance / ZB / Klaus Franke)
    Ries ging zur Luftwaffe, wurde dort zum Fotografen für Luftaufnahmen ausgebildet und erhielt 1945 einen Spezialauftrag in London: In einer österreichischen Salzmine hatte man in 36 Holzkisten das "Geheimarchiv" des SS-Chefs Heinrich Himmler entdeckt - mit Berichten über Experimente an KZ-Häftlingen. "Das war eine schwere Aufgabe. Meine Arbeit war im Bezirk der Menschenversuche in Dachau. Die Deutschen sind ja so penibel, alles wird aufgeschrieben. Die feinsten Details. Entsetzlich! Ganz entsetzliche Sachen! Das musste ich auswerten und übersetzen in Vorbereitung für die Nürnberger-Tribunale."
    Einmal durch Westeuropa
    Nach seinem Bericht vor dem Kriegsverbrecher-Prozess in Nürnberg schickte ihn die US-Armee als Fotoreporter nach Berlin, wo er für eine Militärzeitschrift den Nachkriegsalltag dokumentierte - bis die New York Times auf ihn aufmerksam wurde. "Für die wurde ich der einzige Fotograf für ganz Westeuropa. Da bin ich sehr viel rumgereist. Ich habe Wochen in Spanien verbracht. Ich war bei den ersten italienischen Wahlen und die ganze Blockade habe ich dokumentiert."
    Seine eindringlichsten Bilder aber nahm man in Deutschland nicht zur Kenntnis: So fotografierte er 1947 die Flüchtlinge der "Exodus": Das Schiff, mit dem über 4.500 jüdische Überlebende aus ganz Europa nach Palästina aufbrachen, aber kurz vor ihrem Ziel von den Briten abgefangen und ausgerechnet nach Deutschland zurückgebracht wurden. Ries zeigt ihre entsetzten Gesichter, zeigt sie zwischen bewaffneten Soldaten hinter Stacheldraht.
    1950 erschien sein Buch "German Faces" über die besiegten Deutschen, die - so Ries im Nachwort - "ihrer Schuld nicht eingedenk" waren. In den USA wurde es zum Bestseller. Anfang der 50er-Jahre kehrte der Fotograf zurück nach New York und eröffnete ein erfolgreiches Werbestudio.
    "Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!"
    Doch die Vernichtung der Juden ließ Ries nicht los, und so reiste er in den 90er-Jahren noch einige Male nach Deutschland, um für einen Interviewband Menschen seiner Generation nach der nationalsozialistischen Vergangenheit zu befragen. "Und dann war es so oft, dass sie sagten: 'Also was die Deutschen getan haben!' Nicht: 'Was wir Deutschen getan haben!" Oder: 'Ja, die Kristallnacht. Mein Vater hat das gesehen.' So viele redeten davon: 'Wir tragen eine Last über die Vergangenheit, die uns niemand nehmen kann.' Protzten fast damit, mit dieser Last. So ein Selbstmitleid!"
    In den 90er-Jahren reiste Henry Ries auch mehrfach nach Auschwitz. Daraus entstand ein berührendes Buch mit Interviews und Fotografien. In diesem Buch des 2004 verstorbenen Fotografen fordern Überlebende und Besucher aus aller Welt vehement das ein, was Ries ursprünglich an Erkenntnis von den Deutschen erwartet hatte: Die Notwendigkeit des Erinnerns und Mahnens. Die Forderung: "Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!"

    [*] Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle wurde in der Textfassung des Beitrags der Name des Flughafen korrigiert.