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Vor 100 Jahren geboren
Lino Ventura - der Schauspieler, der nicht zum Film wollte

Lino Ventura brauchte das Kino nicht, aber das Kino brauchte Lino Ventura, der heute vor einhundert Jahren geboren wurde. Mit seinem minimalistischen Spiel und seiner unaufgeregten, aber dennoch intensiven Präsenz wurde er zu einem der populärsten Darsteller der sechziger und siebziger Jahre.

Von Katja Nicodemus | 14.07.2019
    Lino Ventura raucht zuhause Pfeife
    Eigentlich wollte Lino Ventura gar nicht zum Film. Vielleicht resultiert aus der Tatsache, dass er eher zufällig, über einen Bekannten zu seiner ersten Rolle kam, auch seine Coolness auf der Leinwand (Farabola / Leemage / dpa)
    Er hat die schweigsamsten aller schweigsamen Kommissare im Trenchcoat gespielt, man denke nur an Louis Malles Film "Fahrstuhl zum Schafott". Er spielte desillusionierte Gangster in Jean-Pierre Melvilles "Der zweite Atem" oder auch in "Ganoven rechnen ab" von Pierre Granier-Deferre. Es gibt die Plattitüde vom weichen Kern unter der harten Schale – aber bei Lino Ventura kann man es wirklich spüren, das empfindsame Innere hinter den markanten Zügen mit der jung gebrochenen Nase. Seine scheinbare Härte und Schroffheit wirken wie ein Schutz gegen die Gnadenlosigkeit der Welt.
    Früh gelernt, die Deckung zu wahren
    "So, das wär's dann."
    "Noch nicht ganz, Freund."
    Als talentierter Ringer hat er früh gelernt, die Deckung zu wahren. Er tut es auch an seinem allerersten Drehtag, zu Jacques Beckers "Wenn es Nacht wird in Paris". In diesem Film mit Jean Gabin in der Hauptrolle spielt Ventura 1954 einen Drogendealer.
    "Ich ging dorthin mit einer wirklich lächerlichen Haltung, einer Mischung aus Schüchternheit und Selbstverteidigung. Ich sagte mir nämlich, dass ich dem Erstbesten, der mich schräg anschaut, eine reinhaue und wieder nach Hause gehe."
    Zeitungsverkäufer, Hoteljunge, Mechaniker, Lieferant, Handelsvertreter, Ringer
    Lino Ventura wird am 14. Juli 1919 als Angiolino Giuseppe Pasquale Ventura, Sohn italienischer Eltern, in Parma geboren. Im Alter von acht Jahren kommt er mit seiner Mutter nach Frankreich. Seinen Vater, der sie während der Schwangerschaft verlassen hatte, lernt er nie kennen. Um die Mutter zu unterstützen, verlässt er mit neun Jahren die Schule. Er arbeitet als Zeitungsverkäufer und Hoteljunge, später als Mechaniker, Lieferant, Handelsvertreter. Im Freistilringen bringt es Lino Ventura bis zum Europameister, er muss seine sportliche Laufbahn aber wegen einer Verletzung abbrechen. Als Ventura durch Zufall zu seiner ersten Rolle bei Jacques Becker gelangt, erkennt sein Kollege Gabin, dass der 35-Jährige schon ein gelebtes Leben hinter sich hat.
    Jean Gabin erkennt sofort Venturas Außergewöhnlichkeit
    "Ich fand ihn sofort außergewöhnlich. Eine irre Präsenz, eine unglaubliche Persönlichkeit. Jacques Becker zeigte mir Probeaufnahmen von ihm: Ich fragte, was das denn für ein Typ sei. Und Becker sagte: Ein Catcher."
    "Wenn es Nacht wird in Paris" wird ein Publikumserfolg und macht Lino Ventura zum gefragten Darsteller von Unterweltlern. Von Anfang an arbeitet er am liebsten mit Regisseuren, die die Verlorenheit hinter seinen Figuren suchen. So wie Claude Sautet, mit dem er einen seiner eindrücklichsten Filme dreht: "Der Panther wird gehetzt". Hier will Venturas Figur des Abel Davos eigentlich nur eines: Die Unterwelt hinter sich lassen und die eigene Familie schützen. Es ist ein Film mit typisch-existenzialistischen Ventura-Dialogen.
    "Ich glaube, der Weg ist zu Ende."
    "Für wen?"
    "Für einen von uns. Oder für beide."
    Geleitet vom inneren Ehrenkodex
    Oft handeln Venturas Figuren brutal, aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Und egal, ob er Gangster oder Polizisten spielt – stets scheinen sie geleitet von einem inneren Ehrenkodex. Auch im wirklichen Leben muss er ein Mann mit Rückgrat gewesen sein. Tatsächlich würde man sich heute an manchen Filmsets einen Schauspieler wie Lino Ventura wünschen.
    "Wenn ich etwas nicht ertragen kann, dann Menschen, die ihre Machtposition ausnutzen, um andere zu beleidigen oder zu misshandeln. So etwas habe ich nie zugelassen. Solange ich am Set bin, erlaube ich niemandem, wirklich niemandem, Menschen so zu behandeln. Das geht einfach nicht."
    Die Gravitationskraft Lino Venturas
    In Lino Venturas Leben gibt es eine Episode, um die er nie großes Aufheben gemacht hat. Als italienischer Staatsbürger wurde er im Zweiten Weltkrieg zur italienischen Armee eingezogen. Er desertierte 1943 und tauchte unter. Bis zum Ende des Krieges befand er sich in ständiger Lebensgefahr.
    1969 wird Lino Ventura auf der Leinwand in diese Zeit zurückkehren: In Jean-Pierre Melvilles Film "Armee im Schatten" ist er der Chef einer Résistance-Zelle, getarnt mit angeklebtem Schnurrbart und Brille. Im Kampf gegen die unmenschlichen deutschen Besatzer sehen sich auch die Widerstandskämpfer zu unmenschlichen Taten gezwungen. Es ist die Gestalt von Lino Ventura, die diesem Meisterwerk seine Gravitationskraft verleiht. Mit unergründlichem Blick schaut er auf das, was Menschen einander antun. Und auch dieser Ventura-Figur bleibt gar nichts anderes übrig, als sich zu wehren.