"Meine Aufgabe im Leben ist es, das Leben einzufangen. Das Leben, so, wie es ist. Ein echtes Bild, ungestellt und wirklich. Es gibt schon genug Schein und Täuschung", schrieb W. Eugene Smith 1936 an seine Mutter. Da war er gerade 18 Jahre alt und aus dem Mittleren Westen nach New York gezogen, um Fotograf zu werden.
Kurz zuvor hatte er erleben müssen, wie sein Vater, ein wohlhabender Getreidehändler, in Konkurs ging und sich das Leben nahm. Seit Jahren litt das Land unter einer alles verheerenden Dürre, die den Menschen die Existenz raubte. Smith hatte die gewaltigen Sandstürme fotografiert, die über das Land zogen und seine Bilder waren in den Lokalzeitungen erschienen.
"Durch die 'Dust-Bowl'-Fotografie, wie sie die Leute nannten, wurde ich schon sehr früh erwachsen. Genau genommen fotografierte ich die Zerstörung meiner eigenen Familie, wie auch die anderer Familien."
"Er lebte dort so lange, wie er für den Auftrag brauchte"
Smith, am 30. Dezember 1918 in Kansas geboren, hatte das Fotografieren von seiner Mutter gelernt. In New York arbeitete er unter anderem für "Newsweek", dann entdeckte ihn "Life". 1942 reiste er im Auftrag mehrerer Zeitschriften als Kriegskorrespondent in den Pazifik und nach Japan.
"Jedes Mal, wenn ich den Auslöser drückte, schrie ich meine Verurteilung des Krieges mit der Hoffnung heraus, dass sie über Jahre hinweg andauern würde."
Nach dem Krieg entstanden für "Life" die Reportagen, mit denen Smith schnell als "Meister des Foto-Essays" galt. Sein Biograf Sam Stephenson:
"Smith war einer der berühmtesten Fotografen des Magazins. Er wurde extrem gut bezahlt, reiste an Orte, an denen 'Life'-Leser noch nie waren, und lebte dort so lange, wie er für den Auftrag brauchte - was meistens länger war, als die Redaktion erwartete."
Bleiben, bis die Fotografierten ihre Befangenheit verlieren
Nicht das schnelle Sensationsfoto interessierte Smith, sondern der Mensch in seiner Zeit. Schon 1948 entwickelte er in der Reportage "Der Landarzt" seine dafür typische, emphatisch-aufklärerische Haltung: Er verdichtete das Porträt des Arztes zu einem Sinnbild humanistischen Handelns, zeigte ihn, wie er unter widrigen Bedingungen operierte, Menschen aufmerksam zuhörte, ihnen Trost spendete.
"Es ist wichtig, den Menschen nahe genug zu kommen, damit sie vergessen, dass du Fotograf bist, so nahe, dass sie nicht mehr befangen sind, wenn du da bist."
Es folgten Foto-Essays über Wanderarbeiter in den USA, über den drückenden Alltag in einem spanischen Dorf unter der Franco-Herrschaft, über Albert Schweitzer in Lambarene in Westafrika. Und stets entwarf er - gegen alle Verlagsvorschriften - das Layout seiner Geschichten selbst. Sam Stephenson:
"Was die Kontrolle des Künstlers über die eigenen Bilder anging, da hat er wirklich Pionierarbeit geleistet. Er wurde zu einer richtigen Legende in seinem Fach. Aber jedes einzelne Layout führte zu sehr harten Auseinandersetzungen mit den 'Life'-Herausgebern."
An Skripte hielt er sich nicht
Um seine künstlerische Freiheit zu wahren, wechselte Smith 1955 zur Foto-Agentur Magnum. Seine erste Arbeit galt der Stahlstadt Pittsburgh. Sam Stephenson:
"Er hatte einen dreiwöchigen Auftrag: Er sollte für ein Gedenkbuch zum 200. Jahrestag von Pittsburgh 100 Aufnahmen der Stadt machen. Es gab ein genaues Skript, was er alles fotografieren sollte. Er aber machte 22.000 Fotos von Pittsburgh. Er war fest entschlossen, einen Fotoessay zu machen - den Fotoessay aller Zeiten."
Smith blieb fast ein Jahr in Pittsburgh. Er fotografierte Stahlarbeiter bei der Arbeit, erschöpfte Gesichter, Arbeitersiedlungen - und die weiße, herrschende Klasse beim Champagner-Umtrunk. In klarer schwarz-weiß-Fotografie schuf er ein kritisches Gesellschaftsbild seiner Zeit. Fast drei Jahre lang versuchte er, eine Auswahl aus dem gewaltigen Materialberg zu treffen. Dann legte er das ihm wichtigste Projekt seines Lebens unvollendet beiseite - wohl wissend:
"Dieses Pittsburgh-Layout stellt die überwältigende Einheit meiner Überzeugungen dar."
Fotos, die zum Handeln bewegen
Anfang der 70er-Jahre entstand in Japan seine letzte große Arbeit, die ihn weltberühmt machte: In dem Fischerdorf "Minamata" dokumentierte er die Folgen eines verheimlichten Umweltskandals, gab den Opfern eine Stimme, zeigte ihren Widerstand.
1978 starb Eugene Smith im Alter von 59 Jahren. Kurz zuvor hatte der nun als Künstler gefeierte, engagierte Fotoessayist klargestellt, dass er nicht nur Kunst mache:
"In meinen Fotos möchte ich viel lieber noch diese andere Komponente enthalten wissen, die jemanden möglicherweise zum Handeln bewegen könnte!"