Die Herren Punktrichter trauten ihren Augen nicht: Da betrat tatsächlich eine Frau die Eisfläche des Stadions. Im knöchellangen, schweren viktorianischen Rock, mit Satinbluse, Perlenkette und Lederhandschuhen zog sie ihre Kringel und Kreise. Es war Donnerstag, der 13. Februar 1902. In London fand die Weltmeisterschaft im Eiskunstlauf statt, bis dahin ein reiner Männerwettbewerb. Doch nun mussten die Schiedsrichter aus Großbritannien, Russland, Schweden und dem Deutschen Reich tatsächlich die Figuren einer Frau bewerten. Florence Madeleine Syers war ihr Name- von allen nur "Madge" genannt.
Nur widerwillig hatten die Verantwortlichen der Internationalen Eislauf Union ISU die 20-jährige Britin zur WM zugelassen. Aber die Gründerväter des Weltverbandes hatten es im Regelwerk versäumt, Frauen ausdrücklich auszuschließen. Kein Einzelfall, erklärt die renommierte Sporthistorikerin Gertrud Pfister, emeritierte Professorin an der Universität Kopenhagen:
"Ja, also es ist so, dass das so unwahrscheinlich erschien, dass sich da Frauen beteiligen wollten oder beteiligen konnten, dass die Funktionäre es oft vergessen haben, genau auszuschreiben, für wen dieser Wettkampf offen ist oder wer an diesem Wettkampf teilnehmen kann."
Sport war eine Erfindung von Männern für Männer
So trat die ehrgeizige und engagierte Sportlerin gegen vier männliche Konkurrenten an. Und obwohl sie durch die hinderliche Kleidung eindeutig benachteiligt war, ließ die junge Britin drei Läufer hinter sich und wurde sensationell Vizeweltmeisterin. Nur geschlagen von dem Schweden Ulrich Salchow, dem zehnmaligen Weltmeister und Günstling der Punktrichter.
Der Wettbewerb erfuhr nicht nur in der Sportwelt große Aufmerksamkeit. Sogar der englische König Edward VII. und seine Frau Alexandra gratulierten der Vizeweltmeisterin zum einzigartigen Erfolg.
Madge Syers hatte schon früh ihre Leidenschaft für das Eiskunstlaufen entdeckt. Bereits in jungen Jahren durfte sie als eines von 15 Kindern des Bauunternehmers und Immobilien-Entwicklers Edward Jarvis Cave zum berühmten Londoner Prince's Skating Club in Knightsbridge gehen, wo die britische Eiskunstlauf-Elite trainierte. Ein großes Glück, denn die Bedeutung der Frau im Sport war damals verschwindend gering, sagt Gertrud Pfister:
"Man kann sagen, dass sie so gut wie gar keine Rolle spielte, weil Sport ist eine Erfindung und Entwicklung von Männern für Männer. Gerade auch, um ihre Männlichkeit zu beweisen und sich möglicherweise vom anderen Geschlecht abzugrenzen. Also Frauen hatten es am Anfang sehr, sehr schwer, wenn sie Sport treiben wollten."
Besiegte alle Männer
Aber es gab auch männliche Unterstützer und Förderer wie Madge’s Trainer und späterer Ehemann Edgar Morris Wood Syers. Er war ein Verfechter des modernen, sogenannten Internationalen Eiskunstlauf-Stils, der im Gegensatz zur starren englischen oder britischen Lauftradition, viel mehr Freiraum gestattete.
Von Hause aus freigeistig erzogen, begeisterte sich Madge Syers schnell für den Kontinentalen Stil und erlangte bald große Eleganz und Ausstrahlung. Zwar hatten die ISU-Funktionäre nach Madge’s spektakulärem Auftritt 1902 schnell beschlossen, nur noch Männer bei der WM starten zu lassen. Doch die Eiskunstlauf-Pionierin kämpfte weiter. Sie kürzte die langen Röcke auf mittlere Wadenlänge und wurde 1903 und 1904 britische Meisterin: als einzige Frau besiegte sie alle männlichen Konkurrenten, auch ihren Mann.
Erste Goldmedaillen-Gewinnerin bei Olympia
Als der Verband 1906 endlich auch Weltmeisterschaften für Frauen ausrichtete, gewann Madge Syers den ersten Titel, den sie im Folgejahr erfolgreich verteidigte.
1908 wurde Eiskunstlauf in London erstmals olympische Disziplin, auch für Frauen. Madge krönte ihre unglaubliche sportliche Karriere mit der Goldmedaille. Im Paarlauf gewann sie mit ihrem Mann noch Bronze.
Bald aber zwangen gesundheitliche Probleme die engagierte Ausnahmeathletin mit dem Leistungssport aufzuhören. Am 9. September 1917, kurz vor ihrem 36. Geburtstag, starb Madge Syers bei der Geburt ihrer Tochter Josephine, die wenig später ebenfalls ihr Leben verlor. 1981 wurde die große Sportlerin in die weltweite Hall of Fame des Eiskunstlaufs aufgenommen.