"Lange Zeit lebte ich nicht mein eigenes Leben und meinen eigenen Willen, sondern als die Gattin Tolstojs."
Fast fünfzig Jahre lang lebte Sofja Andrejewna Tolstaja an der Seite des Schriftstellers Lew Tolstoj. Nach der Hochzeit im September 1862 wurde die junge Frau Mutter seiner vielköpfigen Kinderschar, sie verwaltete das Landgut der Tolstojs, kümmerte sich um die Finanzen und gab als Verlegerin seine Werke heraus.
Sie war erste Leserin und Kritikerin der Werke Tolstojs. In langen Nächten schrieb sie seine oft fast unentzifferbaren Manuskripte unzählige Male ab, machte Änderungsvorschläge, diskutierte mit dem Schriftsteller die Pläne für seine großen Romane wie Krieg und Frieden und Anna Karenina.
"Das Bewusstsein, einem Genie zu dienen, gab mir Kraft zu allem," schrieb sie später in ihren Erinnerungen.
"Das Bewusstsein, einem Genie zu dienen, gab mir Kraft zu allem," schrieb sie später in ihren Erinnerungen.
Doch schon zu Beginn der Ehe notierte sie in ihrem Tagebuch:
"Ich bin Befriedigung, ich bin Kindermädchen, ich bin ein alltägliches Möbelstück, ich bin eine Frau."
Emanzipierung von Ideen Tolstojs
Nach zwei Jahrzehnten Ehe begann eine Zeit der dramatischen Konflikte. Tolstoj wendete sich fast ganz von der Literatur ab, beschäftigte sich zunehmend mit religiösen, philosophischen und sozialen Themen und stellte alle Werte seines bisherigen Lebens infrage. Kompromisslos verurteilte er die bestehende, auf Ausbeutung und Unterdrückung gründende Gesellschaftsordnung des zaristischen Regimes. Besitz schien ihm das größte Übel.
"Mir ist klar geworden, dass meine Erkenntnis der Wahrheit und der Menschengebote nur dann im Leben wirksam wird, wenn wir, die Reichen, freiwillig dem Reichtum entsagen."
Zahlreiche Zeitgenossen standen Tolstojs geistigem Umschwung verständnislos gegenüber. Auch Sofja Andrejewna wollte und konnte die neuen Ideen ihres Ehemannes nicht als die ihren akzeptieren.
"Ich konnte mich mit meinen neun Kindern doch nicht wie eine Wetterfahne dorthin drehen, wohin mein Mann, immerfort seine Anschauungen ändernd, sich begab."
Sofja Tolstaja begann, sich von ihrem Gatten zu emanzipieren.
"Ich möchte ein eigenes Leben, ein eigenes Werk und nicht die Arbeit an fremden Werken."
Als 1891 Lew Tolstojs Kreutzersonate erschien, war die literarische Welt einem Erdbeben gleich erschüttert. Für Tolstojs Zeitgenossen waren die in seiner Kreutzersonate formulierten Ansichten und sein konservatives, veraltetes Frauenbild eine Provokation. Bei seiner Ehefrau riss die Erzählung alte Wunden auf.
"Sie hat mich vor den Augen der ganzen Welt gedemütigt und den letzten Rest von Liebe zwischen uns zunichtegemacht."
"Wo aber bleibt mein Leben? Wo bleibe ich?"
Tolstaja beschloss, eine Antwort auf die Erzählung des Ehemannes zu schreiben. Das Sujet ihrer literarischen Replik mit dem Titel "Eine Frage der Schuld" entspricht dem der Kreutzersonate. Ein verhängnisvolles Ehedrama, das mit dem Mord des eifersüchtigen Ehemannes an seiner gefallenen Frau endet. Sofja Tolstaja aber erzählt die Geschichte vom Standpunkt der Frau.
"Sollte wirklich allein darin die Bestimmung der Frau sein, dass sie vom Dienst an den körperlichen Bedürfnissen des Säuglings übergeht zu denen des Mannes? Wo aber bleibt mein Leben? Wo bleibe ich?"
Lässt Sofja Tolstaja die Protagonistin Anna sagen. Es könnten ihre eigenen Worte sein. Ihre Erzählung ist voll von Schmerz darüber, wie sich ihr Eheleben in jenen Jahren gestaltet.
Doch ein weiteres Mal stellte Tolstaja sich und ihr Werk hinter das ihres Mannes zurück. Diese und eine zweite Erzählung mit dem Titel "Lied ohne Worte", die wenige Jahre später entstand, blieben zu Lebzeiten Sofja Tolstajas unveröffentlicht.
"Die Zeit für diese Erzählungen wird kommen, nach meinem Tode. Bis dahin sollen sie im Archiv liegen."
Sofja Tolstaja sollte Recht behalten. Mit der Veröffentlichung ihrer Erzählungen und ihres Hauptwerks, der umfangreichen Autobiografie "Mein Leben", fast hundert Jahre nach ihrem Tod am 4. November 1919 begann eine Neubewertung der Biografie der Schriftstellergattin, die Lew Tolstoj eine ebenbürtige Lebenspartnerin war.