Im Sommer 1962 wurde Mikey Cuddihy von New York nach Summerhill geschickt. Mikey war gerade zehn. Sie hatte beide Eltern durch einen Autounfall verloren. "Ab jetzt ist Summerhill dein Zuhause", sagte ihr Vormund. "Und A.S. Neill und seine Frau sind deine Eltern." So erinnert sich Cuddihy:
"Als wir dort ankamen, war Neill bereits 79, ein alter Mann, groß, mit Tweedmütze, Pfeife und einem Labrador namens Biscuit. Neill strahlte eine wohlwollende Autorität aus, er machte Witze und brachte uns zum Lachen. Ab und zu wurde man zu einer ‘Personal Lesson’ in sein Büro gerufen, eigentlich eine Therapiesitzung. Aber ich habe keine Bindung zu ihm entwickelt."
"Als wir dort ankamen, war Neill bereits 79, ein alter Mann, groß, mit Tweedmütze, Pfeife und einem Labrador namens Biscuit. Neill strahlte eine wohlwollende Autorität aus, er machte Witze und brachte uns zum Lachen. Ab und zu wurde man zu einer ‘Personal Lesson’ in sein Büro gerufen, eigentlich eine Therapiesitzung. Aber ich habe keine Bindung zu ihm entwickelt."
Lernende und Lehrende wurden gleichberechtigt
Alexander Sutherland Neill, kurz A. S. Neill, 1883 im schottischen Forfar geboren. 1921 - das genaue Datum ist nicht bekannt - gründete er in Hellerau bei Dresden eine progressiv-demokratische Schule, die später unter dem Namen Summerhill weltberühmt wurde. Als erste Gartenstadt Deutschlands zog Hellerau in den 1920er-Jahren reformbegeisterte Pädagogen aus ganz Europa an. A. S. Neill entwickelte ein radikales Gegenmodell zu seiner eigenen calvinistischen Erziehung. Die Kinder hatten dieselben Rechte wie die Erwachsenen und konnten selbst bestimmen, ob und was sie lernen wollten. Ohne Zeugnisse, ohne Zwang, ohne Angst. Seine Vision beschrieb Neill in den 60er-Jahren einem Fernsehinterview:
"Es ist mir eine Freude, wenn ich sehe, wie Kinder reagieren, wenn man ihnen ihre Freiheit zurückgibt. Wie oft kommen sie hier an, kaputt und abgehärtet und voller Hass. Und nach ein paar Jahren sind sie wie ausgewechselt, besonnen, friedlich, zufrieden. Du kannst niemals durch Bestrafen heilen, sondern nur durch Liebe. Sogenannte Problemkinder gibt es nicht. Es gibt nur Problemeltern."
Die deutschen Pädagogen lehnten alles ab, was Neill Spaß machte
A. S. Neills Experiment in Hellerau war von kurzer Dauer. Die deutschen Reformpädagogen an der "Neuen Schule" seien humorlos, klagte er. Sie hätten alles abgelehnt, was ihm Spaß machte: Bier, Tabak, Foxtrott und sogar Charlie Chaplin. Schließlich zog A. S. Neill mit einer Handvoll Schüler und Erzieher ins niederösterreichische Sonntagsberg weiter.
Keine glückliche Wahl. Der katholische Wallfahrtsort war zutiefst schockiert, dass seine Buben mit Tretrollern um die Kirche rasten, die Mädchen in aller Öffentlichkeit in Badeanzügen herumspazierten und die Zöglinge nicht einmal Religionsunterricht bekamen.
"Ich wunderte mich, dass wir nicht gelyncht wurden", schrieb A. S. Neill später in seinen Memoiren: "Denn die einheimischen Bauern waren die abscheulichsten Menschen, denen ich je begegnet bin."
Summerhill wurde zum alternativen Wallfahrtsort
1924 kehrte A. S. Neill nach England zurück und gründete zunächst in Lyme Regis eine neue Gemeinschaftsschule. Das Haus hieß Summerhill, ein Name, den er beibehielt, als er 1927 seinen endgültigen Standort fand: in Leiston, der hintersten Ecke der Grafschaft Suffolk, nahe am Meer. Dort war er bis zu seinem Tod im Jahr 1973 aktiv, als Summerhill selbst zum alternativen Wallfahrtsort geworden war.
Mikey Cuddihy kann sich noch gut erinnern, wie Leonard Cohen zu Besuch kam und wie sie von Joan Baez Gitarrenunterricht bekam. Vor sieben Jahren hat sie ein Buch über Summerhill geschrieben. Der Titel "A Conversation about Happiness" spielt auf die Worte an, die ihr A. S. Neill mitgab, als sie mit 16 von der Schule abging. Er sagte:
"Mir ist es viel lieber, wenn ein Junge ein glücklicher Straßenkehrer wird als ein unglücklicher Professor. Und das gilt natürlich auch für Mädchen. Wie immer deine Pläne aussehen, ich hoffe, du hast hier in Summerhill genügend Selbstkenntnisse und emotionale Reife erlangt, um die Herausforderungen zu bewältigen, die dich in der großen weiten Welt erwarten."
Mikey ist Künstlerin geworden. Summerhill habe ihr geholfen, die dafür nötige Stabilität und Selbstmotivierung zu entwickeln, sagt sie. Aber in einem Punkt hat sie ihre Zweifel:
"Wie weißt du überhaupt, dass du nicht Lesen oder Mathe lernen willst, wenn dich niemand dazu anhält? Das hat mir manchmal Probleme bereitet. Dass ich Dinge, die mir schwierig vorkamen, erst gar nicht anpackte.
Mikey Cuddihy's Sohn wäre liebend gern nach Summerhill gegangen. Doch diesen Wunsch wollte sie ihm nicht erfüllen.