Mai 1917, ein Schwarz-Weiß-Foto in einer Zeitschrift. Darauf: ein gewöhnliches, industriel gefertigtes Urinal, weiß, aus Porzellan, in ungewöhnlicher Position, um 90 Grad gedreht. Die weiße Rückwand ruht auf einem Podest. Das Auffangbecken ragt nach oben – nicht nur zweckentfremdet, sondern ganz ohne Zweck. Oder liegt der tiefer verborgen?
"In 50 Jahren wird sich herausstellen, welche Bilder von Bestand sind und in den Museen bleiben. Zumindest hoffen wir das. Wir können nicht erkennen, was Ästhetik und was Zeitgeist ist, weil wir ja mitten in unserer Zeit stecken. Das ist ein Problem der Nachwelt, und wir werden nicht mehr da sein, um das Resultat zu sehen", erklärte der, 1887 in der Normandie geborene, französisch-amerikanische Künstler Marcel Duchamp im Rückblick.
"Er schuf einen neuen Gedanken zu dem Objekt"
Sein Urinal, genannt Fountain, ist in den Museen geblieben. Es ist ein Kunstwerk, das Geschichte geschrieben hat. Das Objekt, signiert mit dem falschen Namen R. Mutt, existiert als Original nicht mehr. Nur noch als Foto, aufgenommen von dem bekannten Fotografen Alfred Stieglitz und abgedruckt in dem Kunstmagazin "Blind Man". Marcel Duchamp, der 1915 von Paris nach New York gezogen war, war Mitherausgeber dieser dadaistischen Zeitschrift. Neben dem legendären Foto ein langer Artikel unter der Überschrift "Der Richard Mutt Fall":
"Sie sagen, jeder, der sechs Dollar bezahlt, wird ausgestellt. Mister Richard Mutt reichte eine Fontäne ein. Ohne jede Diskussion verschwand das Objekt und wurde nie gezeigt."
Sie, das ist die Jury für die Jahresausstellung der New Yorker Society of Independent Artists. Die Jury hatte das Pinkelbecken abgelehnt mit der Begründung, es sei keine Kunst. Über mehrere Spalten verteidigt der Zeitungsartikel das Werk:
"Ob Mister Mutt das Objekt mit eigenen Händen erschaffen hat oder nicht, ist unwichtig. Er hat es ausgewählt. Er schuf einen neuen Gedanken zu dem Objekt."
Was ist Kunst? Eine Frage, ganz im Sinne des Künstlers Marcel Duchamp.
Die Kunst liegt in dem Akt des Auswählens
Wenige Jahre zuvor hatte Duchamp noch gemalt, zum Beispiel 1912 das inzwischen berühmte Bild, "Akt eine Treppe herabsteigend". Doch mit 26 Jahren ist der Künstler den Pinsel leid geworden. Malerei, diese bloße "Netzhautkunst" wie er sie nennt, widert ihn an.
"It was not a decision. It was a lack of interest.”
Ihn interessiert fortan die Frage nach dem Original, nach dem Wert einer Idee, nach der Urheberschaft.
Das Urinal ist nicht das erste Ready-made, der erste vorgefertigte Gegenstand, der zu Kunst wird, weil Marcel Duchamp ihn dazu erklärt. Der Künstler montierte bereits drei Jahre zuvor das Speichenrad eines Fahrrades auf einen Küchenschemel, riss einen Hutständer und einen Flaschentrockner aus ihrem gewohnten Zusammenhang. Die Kunst liegt dabei in dem Akt des Auswählens:
"But the idea is the choice of not manufactuerd objects or ready made objects, you can chose many a day if you want. But the thing is to choose one that you are not attracted to it for its shape or anything. It was a feeling of a different story that I would chose it, you see. And that was difficult because anythings become beautiful if you look at it long enough.”
Das Urinal landete auf dem Müll
Dabei, so Duchamp, sei die Kunst, nicht Objekte auszuwählen, die einen anziehen. Denn auch die anderen Dinge würden schön, wenn man sie nur lang genug betrachte.
Das Urinal landet nach seiner Ausstellung in einer amerikanischen Galerie auf dem Müll. Erst in den 50er-Jahren bekennt sich Duchamp als Urheber der Skulptur und kreiert Repliken des Originals, die heute in den Museen zu sehen sind.
Der leidenschaftliche Schachspieler Duchamp vertont nun mit dem Komponisten John Cage eine Schachpartie, empfiehlt, Bilder von Rembrandt als Bügelbrett zu benutzen, erfindet die ikonenhafte Mona Lisa neu, mit Lippen- und Kinnbart und anzüglichem Schriftzug, steckt Miniversionen seiner Kunstwerke zum Verkauf in aufklappbare Koffer, wie serielle Produkte.
Marcel Duchamp verändert den Umgang mit der Kunst, legt den Grundstein für die Pop-Art und die Konzeptkunst der 60er-Jahre, mit Skandalen, Provokationen, aber auch mit Humor.
"Yes, Humor is very important for my live, you know. It´s the only reason for living in fact.”