"Unsere Hände sind Erde, unser Körper Lehm und unsere Augen Regentümpel. Wir wissen nicht, ob wir noch leben.“
So beschrieb Erich Maria Remarque in seinem Roman "Im Westen nichts Neues“ das Grauen in den Schützengräben der Westfront. Dort hatten im Dezember 1914 bereits mehr als 750.000 Soldaten ihr Leben verloren: Deutsche, Engländer, Belgier, Franzosen. Vier Monate nach Kriegsausbruch war kaum noch etwas zu spüren vom Hurra-Patriotismus, den nicht zuletzt Kaiser Wilhelm II. entfacht hatte:
Kaiser Wilhelm II.: "Es muss denn das Schwert nun entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf! Zu den Waffen!"
Eine Schlacht, die schnell geschlagen sei, versprachen der Kaiser und die Generäle. Und so zogen Millionen Deutsche in den Krieg – in dem festen Glauben, spätestens an Weihnachten werde man wieder zu Hause sein. Stattdessen fanden sie sich irgendwo eingegraben im Schlamm wieder, in einem zermürbenden Stellungskrieg – wenn sie überhaupt noch lebten.
"Stille Nacht“ tönte es an Heiligabend bei Armentières aus den deutschen Unterständen, erst leise, dann aus Dutzenden Kehlen. Die verfeindeten Briten gegenüber spendeten Beifall und sangen ihrerseits Weihnachtslieder. Was danach geschah, schilderte – noch ganz ungläubig - der bayerische Infanterist Josef Wenzl in einem Brief an seine Eltern:
Josef Wenzl:"Unsere Leute zündeten einen mitgebrachten Christbaum an, stellten ihn auf den Wall und läuteten mit Glocken. Alles bewegte sich frei aus den Gräben, und es wäre nicht einem in den Sinn gekommen zu schießen.“
Todfeinde, die sich auf dem Schlachtfeld verbrüdern!
Dabei galt das so genannte "Fraternisieren“ als Hochverrat.
Michael Jürgs: "Einen solchen Frieden von unten gab es noch nie in der Geschichte eines Krieges. Es hat niemals wieder einen gegeben."
Michael Jürgs, Journalist und Autor, hat Feldpostbriefe, Tagebücher und Armeearchive durchforstet und ein Buch über den Weihnachtsfrieden von 1914 geschrieben - als plötzlich an der Front kein Schuss mehr fiel.
Klaus Richard: "Die gaben sich die Hand und umarmten sich und tauschten Zigaretten aus und rauchten. Und plötzlich kam der Gesang aus allen Schützengräben. Man muss sich vorstellen: das war von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze – 800 Kilometer."
"Wir tauschten alle möglichen Sachen mit den Deutschen"
Anfangs waren es Hunderte, dann am ersten Weihnachtstag schon Tausende, die unbewaffnet in der Todeszone aufeinander zugingen. Per Handschlag hatten einfache Soldaten einen Waffenstillstand vereinbart, zunächst, um die im Niemandsland liegenden Toten bestatten zu können. Dabei kamen sich die Kriegsgegner näher. Nicht nur Fotos dokumentieren das: Der britische Veteran Leslie Walkington, damals 17 Jahre alt:
Leslie Walkington: "Wir tauschten alle möglichen Sachen mit den Deutschen, zum Beispiel Zigaretten, Zigarren und Knöpfe, Uniformknöpfe. Wir schnitten sie mit Taschenmessern von den Uniformen und tauschten sie als Erinnerungsstücke."
Auch anderes wechselte den Besitzer: Würste gegen Plumpudding, Dresdner Stollen gegen "Corned Beef“. Vor allem Sachsen, Bayern und Österreicher verstanden sich gut mit den Briten – oft besser als mit ihren Kameraden aus Preußen. Und so wurde sogar Fußball gespielt im Niemandsland, mit Pickelhauben und Mützen als Torpfosten - bis die Befehlshaber dem friedlichen Treiben ein Ende machten, indem sie mit härtesten Strafen drohten.
Klaus Richard: "Dennoch gab es Beispiele von Frontabschnitten an der Westfront, wo dieser Frieden nicht nur eine Woche oder zwei Wochen, sondern wo die sich untereinander abgesprochen haben. Hört mal zu, Jungs, wir müssen zwar wieder schießen. Die Befehle sind da. Aber wir schießen über den Kopf hinweg und ihr macht’s bitte genauso. Und das hielt auch vor, es hielt auch vor."
Aus Briefen und aus Zeitungen erfuhren die Familien daheim vom "Weihnachtswunder“, das die offizielle Propaganda gleichwohl kleinzureden versuchte. Für viele Frontsoldaten wie Josef Wenzl blieb es ein prägendes Erlebnis:
Josef Wenzl: "Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Man sieht bald, dass der Mensch weiterlebt, auch wenn er nichts mehr kennt in dieser Zeit als Töten und Morden. Weihnachten 1914 wird mir unvergesslich sein.“
Josef Wenzl – der Soldat aus Bayern - fiel am 6. Mai 1917. Einen Weihnachtsfrieden haben er und Millionen andere Soldaten nicht mehr erlebt.