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Vor 100 Jahren
"Zarentochter Anastasia" aus Berliner Landwehrkanal gerettet

Im Februar 1920 tauchte in Berlin eine Frau auf, die behauptete, Anastasia zu sein – die jüngste Tochter von Zar Nikolaus II. und damit die Ermordung der Zarenfamilie überlebt zu haben. Sie wurde zur Projektionsfläche für die im Exil lebenden Anhänger der Romanows. Bis aus Anastasia Anna Anderson wurde.

Von Anja Reinhardt |
    Grand Duchess Anastasia, the youngest daughter of Czar Nicholas II and Czarina Alexandra of Russia. Anastasia and the rest of the Imperial family were murdered by the Bolshviks in 1918 although rumours persist that she alone survived, living to a ripe old age in the United States. c1914. |
    Erster Weltkrieg: die echte Großherzogin Anastasia (PA Archive)
    "Ich zitterte am ganzen Leibe und begann auch zu weinen, so erniedrigt fühlte ich mich. Meine Besucher ließen sich jedoch nicht abhalten, mir zuzureden, ich möge mich doch zu erkennen geben. Ich konnte sie nur aus meinem Versteck unter der Bettdecke heraus anflehen, mich wieder zu verlassen, ich hätte sie nicht zu mir gebeten."
    Monatelang schweigt die junge Frau, die am 17. Februar 1920 aus dem Berliner Landwehrkanal gerettet wird. Offenbar wollte sie sich das Leben nehmen, niemand weiß, wer sie ist. Sie wird in ein Krankenhaus gebracht, dann nach Dalldorf, in die "Irrenanstalt", wie es damals noch heißt. Als ihr ein russisches Ehepaar Fotos der Zarenfamilie zeigt, redet sie zum ersten Mal: ja, sie sei Anastasia, die jüngste Tochter des russischen Zaren. So erzählt es die junge Frau später in ihrer Autobiographie, da nennt sie sich schon lange Anna Anderson.
    Die falsche Zarentochter
    "Es ist so, dass man annimmt, dass sie schon früh, heute würde man sagen: eine bipolare Störung hatte. Sie ist 1914 nach Berlin gekommen und ist da ziemlich schnell auf der Straße gelandet, und hat sehr viele tragische Dinge in ihrem Leben erlebt, bevor sie überhaupt von dieser Brücke in den Landwehrkanal gesprungen ist."
    Simon Schwartz ist Autor der Graphic Novel "Ikon" über die falsche Anastasia.
    "Sie hatte vorher schon mehrere Aufenthalte in Nervenheilanstalten in Berlin, genauer gesagt in Dalldorf. Als man sie dann 1920 wieder nach Dalldorf brachte, hat man sie interessanterweise nicht wiedererkannt. Und sie wurde als ‚Fräulein Unbekannt‘ registriert. Und ab diesem Punkt wird sie im Prinzip zu einer Projektionsfläche für alle möglichen Personen."
    Inkarnation der alten glanzvollen Welt
    Zur Projektionsfläche wird sie vor allem für die im Exil lebenden Anhänger des Zaren. Europa ist im Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg. Neue Ordnungen entstehen, oft gewaltsam. 1918 ermorden Bolschewiki die in Jekaterinburg inhaftierte Herrscherfamilie. Die russische Führung macht das Verschwinden der Romanows zum Tabu-Thema, erst Jahrzehnte später wird der Tod Nikolaus II. und seiner Familie endgültig belegt. Bis dahin halten sich hartnäckig Gerüchte über ihr geheimes Weiterleben. Anna Anderson als Anastasia ist für viele die Inkarnation der alten, monarchischen, glanzvollen Welt.
    Dabei ist recht schnell schon klar, dass es sich bei der Frau aus dem Landwehrkanal um Franzisca Czenstkowski handelt, die aus armen Verhältnissen bei Danzig stammt und in einer Berliner Fabrik am Fließband arbeitete. Es mag verführerisch sein, das alte trostlose Leben gegen eine glanzvolle Identität einzutauschen. Schon 1921 titelt die Berliner Illustrierte Zeitung: "Lebt eine Zarentochter?"
    "Dann kam die Presse an. Sie hat es erst kurz geleugnet, und hat es dann ganz schnell angenommen, hat gesagt, ja, ich bin Anastasia. Und hat das bis 1984 durchgezogen."
    Aphrodite-Kult um Anastasia
    Ein jahrzehntelanger Kampf um Anerkennung und das Geld der Romanows beginnt, der zäh vor Gericht ausgetragen wird. 1962 umfassen die Prozessakten schon sieben Meter in 54 Leitz-Ordnern. Immer wieder tauchen Menschen auf, die in Anna Anastasia sehen, vor allem Gleb Botkin, Sohn des Leibarztes der Zarenfamilie, der sie zum Zentrum eines Aphrodite-Kults macht. Die falsche Anastasia wird auch in der zeitgenössischen Populärkultur mystifiziert.
    "Sie hatte eine große mediale Aufmerksamkeit in den 20er Jahren. Und dann tauchte sie 1956 wieder in der Presse auf, weil der Film ‚Anastasia‘ mit Ingrid Bergman erschien [… ] Dann war sie in den 50er Jahren wieder ganz stark in der Boulevardpresse und dann tatsächlich noch mal den 70er, 80er Jahren bis zu ihrem Tod. Also, der Glanz ist nie weggegangen."
    Tragisches Ende in einer Hütte
    Während die eigentlich unbedeutende Zarentochter Anastasia erst durch Anna Anderson zu einem Mythos wurde, verläuft das Leben der Frau, die aus dem Landwehrkanal gerettet wurde, tragisch. Adelige Anhänger versorgen sie zwar mit Geld, vor allem, um die immensen Gerichtskosten zu begleichen, sie selbst lebt aber fast verwahrlost zuerst in einer Hütte im Schwarzwald, ab 1968 dann in den USA.
    "Da gibt es eine halbstündige Dokumentation, wie sie bei ihr in der Wohnung sind, und es ist einfach eine Messie-Müllhalde und sie aber immer noch in irgendeinen Country Club in den USA geht, wo sie immer noch als Anastasia gefeiert wird."
    1984 stirbt Anna Anderson, ein posthumer Gentest belegt: Eine Verwandtschaft zu den Romanows ist ausgeschlossen. Es konnte nie geklärt werden, ob Franzisca Czenstkowski alias Anna Anderson alias Anastasia eine abgebrühte Lügnerin war oder ihre eigene Geschichte bis zur Selbstaufgabe verinnerlicht hatte.