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Epochale Schiffskatastrophe
Der Untergang der "Titanic" vor 110 Jahren

Der Untergang des vermeintlich unsinkbaren Ozeanriesen „Titanic" 1912 mit dem Verlust von 1.500 Menschenleben schockierte die Zeitgenossen - bot aber auch Zündstoff für soziale Konflikte und wurde schließlich zum schillernden Mythos.

Von Ulrike Rückert |
"Der Untergang der Titanic" -  Foto, neukoloriert, nach  einer  zeitgenösssische Zeichnung von Willy Stoewer
Der Untergang der Titanic am 15. April 1912 - zeitgenösssische Zeichnung (picture-alliance / akg-images)
„Die 'Olympic' und die 'Titanic' sind nicht nur die größten Schiffe der Welt, sie repräsentieren auch die höchsten Leistungen im Schiffbau, sie stehen für die Überlegenheit der angelsächsischen Rasse auf dem Meer.“
So warb die englische White Star Line für ihre neuen Superdampfer. Nach der triumphalen Jungfernfahrt der "Olympic" im Jahr zuvor erregte die fast völlig identische "Titanic" nur noch mäßige Aufmerksamkeit, als sie im April 1912 zu ihrer ersten Reise von Southampton nach New York auslief. Sie wurde zu einem Mythos, als sie am fünften Abend der Fahrt einen Eisberg rammte. Kurz vor Mitternacht spürten die Passagiere einen Ruck. Ein Knirschen und Schrammen war zu hören, dann stoppten die Maschinen. Edith Rosenbaum lief hinaus aufs Promenadendeck.

Jemand schlug eine Schneeballschlacht vor

„Schnell schlossen sich uns andere an. Wir alle schauten auf diese große weiße Masse. Ich war hocherfreut, denn ich hatte immer einen Eisberg sehen wollen. Wir alle hielten es für einen großen Spaß und hoben Eisbrocken auf, die auf dem Deck herumlagen. Jemand schlug eine Schneeballschlacht vor.“
Niemand war ernsthaft besorgt, denn, so der Tennis-Champion Karl Behr: "Dass die Titanic sinken könnte, erschien uns eine absurde Idee.“

Passagiere der Dritten Klasse hatten keinen Deck-Zugang

Noch als die Passagiere der Ersten und Zweiten Klasse mit Schwimmwesten auf dem Bootsdeck standen, der Bug sich neigte und das Schiff spürbar Schlagseite hatte, glaubten sie sich in Sicherheit.
„Sie waren nicht erpicht darauf, in die Boote zu gehen. Niemand nahm es ernst“, sagte ein Schiffsoffizier später. Als sie dann begriffen, was geschah, brach Chaos aus. Weder Besatzung noch Fahrgäste hatten die Evakuierung geübt. Die rund 700 Passagiere der Dritten Klasse hatten keinen direkten Zugang zum Bootsdeck, und niemand zeigte ihnen den Weg; nur ein Steward führte einige Frauen und Kinder hinauf. Die Rettungsboote reichten bei weitem nicht für alle, dennoch wurden sie nicht voll besetzt. Als das letzte abgelassen wurde, blieben etwa 1.500 Menschen zurück.
„Nie werde ich die schreckliche Schönheit der 'Titanic' in diesem Augenblick vergessen. Sie sah aus wie ein riesiges Glühwürmchen – elektrische Lichter in jeder Kabine, Lichter auf allen Decks und Lichter an der Mastspitze.“
So schilderte Charlotte Collyer den Anblick von den Booten aus. Dann versank die vordere Hälfte ganz, die Lichter erloschen. Ein panischer Aufschrei erscholl von den Decks, das Heck bäumte sich steil auf. Um zwei Uhr zwanzig am 15. April 1912 glitt die Titanic auf den Grund des Meeres.
Der versunkene Bug der Titanic in der Dokumentation "Ghosts Of The Abyss", Regie James Cameron, 2003
Der versunkene Bug der Titanic in der Dokumentation "Ghosts Of The Abyss", Regie James Cameron, 2003 (imago images / Mary Evans / Walt Disney)
„Völlige Stille. Die Realität schien nicht in unsere Gehirne zu dringen“, erinnerte sich Edith Rosenbaum. Um vier Uhr erreichte der Passagierdampfer "Carpathia" die Unglücksstelle und nahm rund 700 Überlebende aus den Rettungsbooten auf.

Instrumentalisiert im Kampf gegen mehr Frauenrechte

„Könige der Finanzwelt, Industriekapitäne, weltberühmte Männer sind mit der Titanic untergegangen!“ Die Presse war auf die Reichen und Prominenten fixiert. Die Männer, die umgekommen waren, feierte man als Helden, die ritterlich ihr Leben für die Rettung von Frauen geopfert hatten – und wendete dies sofort gegen jede Veränderung der Geschlechterrollen.
„Wenn künftig eine Frau von Frauenrechten spricht, antworte man ihr mit dem Wort 'Titanic'. Nicht mehr – nur: 'Titanic'", hieß es etwa in einem Blatt. Und wenn auch die Überlegenheit der „angelsächsischen Rasse“ im Schiffbau einen Rückschlag erlitten hatte, konnte doch ihre moralische demonstriert werden: Ritterlichkeit und Heroismus seien ihr von Natur aus eigen, insbesondere ihrer Elite. Den Männern aus aller Herren Länder in der Dritten Klasse schrieb man dagegen Feigheit und Rücksichtslosigkeit zu. Und auch nur die Frauen der angelsächsischen Elite waren das Opfer wert: „Es zeigt sich ein Bild von Männern wie John Jacob Astor, Herr über zig Millionen, die zurückstehen, damit den Platz womöglich irgendeine holzbeschuhte, analphabetische Bauersfrau einnimmt.“
Der erste "Titanic"-Film kam einen Monat nach dem Unglück in die Kinos, in der Hauptrolle eine echte Überlebende. Seither ist die Flut von Büchern, Filmen, Musicals, Dramen, Songs und Dokumentationen uferlos geworden. Kein anderes Schiffsunglück wurde so romantisiert und mythisiert, mit immer neuen Bedeutungen aufgeladen - als Exempel für die Hybris der technischen Machbarkeit, als Mikrokosmos einer Epoche und Symbol für ihr Ende, Brennglas für soziale Konflikte oder Fundus dramatischer Schicksale.