Der Schweizer Diplomat Carl Lutz, der am 30. März 1895 im Kanton Appenzell als neuntes Kind methodistischer Eltern geboren wurde, war wie viele gläubige Christen seiner Zeit, von antisemitischen Vorurteilen geprägt. Als Kanzleisekretär am Schweizer Konsulat in Jaffa empfand er für die jüdischen Einwanderer, die in den 1930er-Jahren Zuflucht im britisch verwalteten Palästina suchten, keine Sympathie:
Zitat: "Europa und Deutschland im Besonderen ist zu gratulieren, diesen Menschenschlag losgeworden zu sein. Hinsichtlich ihres Reinlichkeitssinns passen sie gut ins orientalische Milieu. Sie scheinen des Fluches, der auf ihnen ruht seit der Verwerfung des Messias, nicht gewahr zu sein."
Doch Lutz überwand allmählich seine Abneigung gegen Juden. Dies sollte sich als entscheidend für sein weiteres Leben erweisen. Denn als er 1942 als Vizekonsul nach Budapest versetzt wurde, kam er an einen Ort, der sich zu einem Brennpunkt des Holocaust entwickelte: Nach der deutschen Besetzung Ungarns im März 1944 wurden in nur sieben Wochen 437.000 Juden aus der ungarischen Provinz nach Auschwitz deportiert.
Hoffen auf Zustimmung zur Palästina-Aktion
Den Juden in der Hauptstadt Budapest drohte dasselbe Schicksal. Moshe Krausz, der als Repräsentant der Jewish Agency in Budapest von der britischen Regierung ein Kontingent für die Einwanderung von 8.000 ungarischen Juden nach Palästina erwirkte, überredete Lutz dazu, seine guten Kontakte zugunsten der Bedrängten zu nutzen. Lutz suchte daraufhin den Hauptorganisator des Völkermords, Adolf Eichmann, auf, um die deutsche Zustimmung für die Palästinaaktion zu erhalten:
"Er sagte: ‚Das ist unmöglich, ich habe dazu keine Kompetenz. Meine Judentransporte gehen nach dem Osten. Das müsste Himmler entscheiden.‘ Himmler sagte, das müsste vom Führer bewilligt werden, der aber in Berlin war. Meines Erachtens war das eine verlorene Angelegenheit."
Zu Lutz‘ Überraschung willigte die deutsche Seite ein, 8.000 Budapester Juden bis zu ihrer späteren Auswanderung unter Schweizer Schutz zu stellen – vermutlich versprach man sich in Berlin von diesem Manöver eine Tarnung der eigenen mörderischen Pläne. Lutz hingegen erkannte darin eine humanitäre Chance. Ohne das Ministerium in Bern über die Einzelheiten seines Vorgehens in Kenntnis zu setzen, stattete er umgehend tausende Juden mit Schweizer Schutzpässen aus. Mehr noch: Angesichts des sofort einsetzenden Ansturms Hilfesuchender auf das Schweizer Konsulat ließ Lutz die von 1 bis 8000 durchnummerierten Pässe gleich mehrfach ausstellen, um so mehr Menschen retten zu können. Er vertraute darauf, dass die Deutschen diesen Schwindel nicht durchschauen würden.
Persönlicher Einsatz gegen Pfeilkreuzler
Die Vergabe von Schutzbriefen wurde schon bald von der schwedischen Botschaft und der apostolischen Nuntiatur in Budapest nachgeahmt. Es war ungewiss, wie lange die Deutschen diese Praxis tolerieren würden. Eine ebenso große Gefahr ging von den Pfeilkreuzlern - den ungarischen Faschisten - aus, die im Oktober 1944 in Budapest an die Regierung kamen und tausende Budapester Juden massakrierten, wobei es auch zu Übergriffen auf die Judenhäuser unter Schweizer und schwedischer Protektion kam. Mehr als einmal stellte sich Carl Lutz persönlich den Pfeilkreuzlern entgegen.
Als Lutz 1945 in seine Heimat zurückkehrte, erwartete er einen offiziellen Dank für seine Courage, doch stattdessen tadelte ihn das Außendepartement in Bern wegen der Überschreitung seiner Kompetenzen.
"Nein, es wurde mir gar nicht gedankt. Sie haben gesagt: Sie haben Glück gehabt, dass Sie gut angekommen sind und dass Sie den Krieg in Budapest überlebt haben. Das war alles."
Die Schweiz, die seit 1938 mindestens 24.000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland an der Grenze abgewiesen und bis 1944 nicht wenige Juden sogar an die deutschen Behörden ausgeliefert hatte, wollte nicht an den Rettungswiderstand Einzelner erinnert werden. Erst 1995, 20 Jahre nach seinem Tod, würdigte die Schweizer Bundesregierung offiziell Carl Lutz‘ Einsatz für die Budapester Juden.