"Was für ein herrlicher Tag ist heute der Stadt Ulm angebrochen! Was ... die Gründer dieses Gotteshauses wie ein Traumbild vor Augen hatten; was mit dem wachsenden Bau in immer weitere Fernen sich schob; woran Jahrhunderte verzweifeln zu müssen glaubten, das ist erfüllt und erreicht."
Mit einer Festpredigt feierte Dekan Adolf von Bilfinger die Fertigstellung des Ulmer Münsters. 513 Jahre hatten elf Baumeister daran gearbeitet. Am 31. Mai 1890 wurde der letzte Stein eingemauert. Der Architekturhistoriker Christian Freigang von der Freien Universität Berlin:
"Besonders ist, dass es eine der größten Stadtkirchen des späten Mittelalters ist, und da sind natürlich vor allem die Dimensionen gewaltig. Der Chor ist über 20 Meter hoch, aber vor allem der Turm ist ja der höchste Kirchturm in gotischer Bautechnik. Weite Räume, eine unglaublich virtuose Ausarbeitung dieser Architektur. Und das Ganze diente schon im Mittelalter dem städtischen Patriziat zur Selbstdarstellung. Denn wir müssen uns vorstellen, am Ende des 14. Jahrhunderts hatten die Ulmer ihre Pfarrkirche außerhalb der Stadtmauern und die unterstand dem Kloster Reichenau."
Alle Spenden flossen in die Kassen dieses, auf einer Insel im Bodensee gelegenen Klosters. Und da die Ulmer Gemeinde keine Kirche wollte, die von einem Bischof oder Fürsten regiert wurde, beschloss sie, ein eigenes Gotteshaus zu bauen.
"Kirchenrechtlich eine Emanzipation aus der Abhängigkeit von der Reichenau. Und dadurch hatten die Ulmer ihre Kirche und konnten vor allem den Pfarrer bestimmen. Da ging es natürlich vor allem darum, Platz zu bieten für die zahlreichen patrizischen Familien, für ihre Grablegen, aber vor allem eben für ihre Seelenmessen, auf dass sie ins Paradies kommen."
Grundsteinlegung am 30. Juni 1377
"Als der Grundstein gelegt war, öffnete der angesehene Herr Ludwig Krafft, ... seine Börse, nahm Gold heraus und bedeckte ... mit 100 funkelnden Gulden den Felsblock, nach ihm stiegen auch die übrigen Patrizier hinab und schmückten den Grundstein mit Gold und Silber, ebenso machten es auch die vom ehrbaren Volk und die Andächtigen vom gemeinen Volke; und so wurden große Geschenke an diesem Tag für den Bau zusammengebracht."
So beschrieb der Chronist Felix Fabri die Grundsteinlegung am 30. Juni 1377 durch den Ulmer Bürgermeister. 250 Jahre lang steckten die reichen Patrizierfamilien ihr Geld in den Bau des Münsters, finanzierten kostbare Altäre und Kunstwerke. Die Welt sollte sehen, wie wohlhabend die Ulmer waren, das Münster wurde zum Symbol für Reichtum und Unabhängigkeit der Stadt. Doch als sich Ulm Anfang des 16. Jahrhunderts der Reformation anschloss, wurde der Bau gestoppt.
"Einer der Kritikpunkte von Luther war ja, dass so viel in dieses Bauen gesteckt wurde, und nicht in richtiges christliches Werk, und dieser Riesenaufwand nicht mehr zu vertreten war."
Zahlreiche Werke von Künstlern aus ganz Europa wurden aus der Kirche entfernt und wertvolle gotische Altäre als Brennholz an die Armen verteilt. Das Münster wurde die nächsten 300 Jahre mit unvollendetem Turm seinem Schicksal überlassen. 1831 bezeichnete es Eduard Mörike als "schauerlichen Block".
"Dieser Koloss, der so tyrannisch alles um sich her verkleinert, ... , scheint wie ein überbliebenes Gespenst aus früheren Jahrhunderten, sich fremd und kalt in unserem verflachten Kirchenalter zu fühlen."
Der Bau wurde in den 1830er-Jahren wieder aufgenommen. Nach dem Sieg über Napoleon erstarkte der Nationalismus in Deutschland und man wollte monumentale Nationaldenkmäler präsentieren. Großes Vorbild für die Ulmer Bürgerschaft war der Kölner Dom mit einer Turmhöhe von 157 Metern. Das Ulmer Münster überragt ihn um vier Meter. 768 Stufen führen hinauf in den bis heute höchsten Kirchturm der Welt, der von den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg verschont wurde. Dafür, dass das Wahrzeichen der Ulmer Bürgerschaft nicht noch einmal dem Verfall preisgegeben wird, sorgt die Münsterbauhütte, in der kontinuierlich am Erhalt des steinernen Riesen gearbeitet wird.