"Kinder zu fragen, woher die Sonne, der Mond und die Gestirne kämen, mag merkwürdig klingen. Wir selbst sind während Jahren nicht auf diese Idee gekommen, und als wir darauf kamen, zögerten wir lange, bis wir sie in die Tat umsetzten, weil wir befürchteten, die Kinder würden meinen, wir wollten uns über sie lustig machen. Doch für Kinder gibt es keine absurden Fragen. Sich auszumalen, woraus die Sonne hervorgegangen sei, bringt sie kaum mehr in Verlegenheit als sich vorzustellen, woher die Flüsse, die Wolken oder der Rauch kommen."
"Eine Art Embryologie der Intelligenz entdecken"
Jean Piaget, der junge Schweizer Professor für Psychologie, Philosophie und Soziologie, war in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der erste, der auf die Idee kam, mit drei- bis elfjährigen Kindern über den Ursprung der Gestirne zu sprechen und ihre Antworten ernst zu nehmen. Ernst zu nehmen als Antworten, die Aufschluss über die Entwicklungsgeschichte menschlicher Erkenntnis geben konnten.
Jean Piaget kam am 9. August 1896 in Neuenburg in der Schweiz als Sohn eines Professors für mittelalterliche Literatur zur Welt. Während seiner Gymnasialzeit wurde er für mehrere Jahre Helfer eines Zoologen, der das Museum seiner Heimatstadt leitete. Später gehörte er zur privaten Diskussionsgruppe seines Philosophielehrers. Dadurch wurde sein Bewusstsein für erkenntnistheoretische Probleme geschärft.
"Mein Ziel war schließlich, eine Art Embryologie der Intelligenz zu entdecken, die meiner biologischen Ausbildung angepasst war."
Typische Denkweisen für verschiedene Altersstufen
Nach dem Abschluss des Studiums 1918 mit einer biologischen Dissertation erweiterte Piaget in Zürich und Paris sein Wissen auf psychologischem und psychopathologischem Gebiet. Zu einem Schlüsselereignis wurde seine Tätigkeit im Laboratorium des französischen Psychiaters Alfred Binet. Piaget sollte US-amerikanische Intelligenztests für Pariser Kinder standardisieren. Dabei fiel ihm auf, dass die Kinder bestimmte Fragen regelmäßig falsch beantworteten. Er tat sie nicht als falsch ab, sondern sah darin typische Denkweisen für verschiedene Altersstufen.
Der Vorwurf, seine Forschungen über das Weltbild von Kindern beschränkten sich auf deren kognitive Fähigkeiten, veranlasste Piaget Anfang der 1930er Jahre zu einer Untersuchung über die moralische Urteilsfähigkeit von Kindern. Seine Präsentation der Ergebnisse begann auf originelle und anschauliche Weise mit einer Untersuchung des Murmelspiels von Kindern. Dabei wurden verschiedene Stadien im Hinblick auf die Befolgung und das Bewusstsein von Regeln erkennbar und damit auch Unterschiede hinsichtlich der moralischen Qualität.
"Vom psychologischen Gesichtspunkte aus ist es etwas ganz Verschiedenes, ob man dieselbe Regel bei einem Kinde von 7 Jahren betrachtet, das sie als heilig und unantastbar ansieht, oder bei einem Kinde von 12 Jahren, das, ohne sie weniger zu befolgen, sie auf Grund der gegenseitigen Übereinstimmung als gültig betrachtet."
Mittelglied zwischen biologischem Organismus und wissenschaftlichem Denken
Angesichts der Entdeckung verschiedener Entwicklungsstufen auch auf moralischem Gebiet ergab sich für Piaget eine wichtige Frage: "Wie ist es möglich, daß die Demokratie im Murmelspiel 11 bis 13-jähriger Knaben so fortgeschritten ist, während sie den Erwachsenen auf vielen Gebieten noch so wenig vertraut ist?"
Seine entscheidende Erklärung lautete: "Die 11 bis 13 jährigen sind beim Murmelspiel die Ältesten. Die Kinder, deren Reaktionen wir studieren, stehen nicht unter dem Druck von Partnern, die ihnen auf Grund ihres Prestiges ihren Gesichtspunkt aufzwingen."
Die Entwicklung der Intelligenz des Kindes bildete das von Piaget entdeckte Mittelglied zwischen dem biologischen Organismus und wissenschaftlichem Denken. "Genetische Epistemologie", also die Lehre von der Genesis der Erkenntnis, wurde zum Titel und zum zentralen Thema seiner vielfältigen Forschungen und Engagements. Mehr als 60 Assistenten und Hunderte von Studenten gehörten in der Blütezeit des 1955 von ihm gegründeten Genfer "Centre international d’épistémologie génétique" zu seinem Mitarbeiterstab.
Jean Piaget starb am 16. September 1980. Heute zählt er zu den Klassikern einer interdisziplinären Spielart problemorientierten und kreativen Forschens.
Seine entscheidende Erklärung lautete: "Die 11 bis 13 jährigen sind beim Murmelspiel die Ältesten. Die Kinder, deren Reaktionen wir studieren, stehen nicht unter dem Druck von Partnern, die ihnen auf Grund ihres Prestiges ihren Gesichtspunkt aufzwingen."
Die Entwicklung der Intelligenz des Kindes bildete das von Piaget entdeckte Mittelglied zwischen dem biologischen Organismus und wissenschaftlichem Denken. "Genetische Epistemologie", also die Lehre von der Genesis der Erkenntnis, wurde zum Titel und zum zentralen Thema seiner vielfältigen Forschungen und Engagements. Mehr als 60 Assistenten und Hunderte von Studenten gehörten in der Blütezeit des 1955 von ihm gegründeten Genfer "Centre international d’épistémologie génétique" zu seinem Mitarbeiterstab.
Jean Piaget starb am 16. September 1980. Heute zählt er zu den Klassikern einer interdisziplinären Spielart problemorientierten und kreativen Forschens.