Da steht sie, mitten in der feiernden Menge, die Hände in die schlanke Hüfte gestützt. Im Mundwinkel hängt eine Zigarette. Sie trägt Herrenhose, Weste und einen Zylinder, den sie sich schief ins Gesicht gezogen hat. Herausfordernd blickt sie uns an. Gleich geht es weiter mit dem wilden Tanz. "Sie repräsentiert" heißt dieses Porträt einer androgynen jungen Frau. Die Künstlerin Jeanne Mammen hat es in den 20er-Jahren gemalt.
"Ihre Bedeutung ist natürlich, dass sie uns eine Frauenwelt der 20er-Jahre erschlossen hat, die kein anderer Künstler so ausgedrückt hat, also weder die kritischen Künstler wie Otto Dix und George Grosz noch die Dadaisten wie Hannah Höch. Jeanne Mammen hat eigentlich die neue Frau der 20er-Jahre durch ihre Arbeiten, durch ihre Illustrationen uns so in unsere Bilderwelt geprägt, dass wir eigentlich die Berlinerin der 20er-Jahre mit ihren jungen Frauen identifizieren", sagt die Kunsthistorikerin Annelie Lütgens.
Als scharfe Beobachterin hat Jeanne Mammen die Metropole durchstreift, die Künstlercafés ebenso wie die Arbeiter-Kaschemmen, wie sie selbst rückblickend in einem ihrer wenigen Interviews erzählt.
"Da gab es noch eine winzige, kleine Kneipe, die hatte überhaupt nur zwei Tische und die hieß "Zur letzten Instanz". Ja, und daneben an, da war so eine Prostituiertenstraße, die Häuschen waren ganz klein, wo sie alle immer im Fenster lagen und winkten."
Sie zeichnet erschöpfte Prostituierte, gelangweilte Millionärsgattinnen, herausgeputzte Büroangestellte, Revuetänzerinnen, Kellnerinnen, Fabrikarbeiterinnen. Sie alle blicken mal frech, mal gelangweilt aus schmalen, katzenhaften Augen.
"Man merkt, dass sie sich zwar kess anziehen und einen Bubikopf schneiden und schminken, aber dass letztendlich dieser Überlebenskampf für die jungen Frauen doch erheblich war, die ja vom Lande kamen und irgendwie versucht haben, in Berlin ihr Glück zu machen. Und Jeanne Mammen hat sich eigentlich dieser Frauen angenommen mit ihrer Kunst."
"Ich habe sie früher wahnsinnig geliebt und habe mich wahnsinnig für jeden Menschen interessiert und für jeden Typ und so."
In Berlin geboren, aus Paris geflohen
Jeanne Mammen wird am 21. November 1890 in Berlin geboren. Sie wächst in einem wohlhabenden, liberalen Elternhaus auf. Als sie fünf Jahre alt ist, zieht die Familie nach Paris. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, muss sie als Deutsche aus Frankreich fliehen, das gesamte Familienvermögen wird konfisziert. Mittellos kommt sie mit ihrer Schwester in ihrer für sie fremden Geburtsstadt Berlin an, wo sie ein Atelier am Kurfürstendamm bezieht. Sie beginnt, ihre Aquarelle an Zeitschriften wie den "Simplicissimus" zu verkaufen. Bald zeichnet sie auch für Modemagazine wie "Die schöne Frau" oder "Styl". Kurt Tucholsky schwärmt:
"Ihre Figuren fassen sich sauber an, sie sind anmutig und herb dabei, und sie springen mit Haut und Haaren aus dem Papier."
1930 bekommt Jeanne Mammen in der angesehenen Galerie Gurlitt ihre erste Einzelausstellung. Nur drei Jahre später wird sie wieder ihrer Existenzgrundlage beraubt: 1933, mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, werden viele Zeitschriften verboten. Ihren Stil ändert sie nun radikal: Sie malt expressive Ölbilder, die immer abstrakter werden.
"Sie hat sich gesagt, jetzt muss ich als Künstlerin reagieren auf diese NS-Kunst- und Kulturpolitik und hat sich dann tatsächlich das erste Mal intensiv mit dem Kubismus und Picasso auseinandergesetzt. Sie hat sozusagen einen aggressiven Malstil entwickelt. Wenn das entdeckt worden wäre, dann wäre sie stante pede ins Gefängnis geworfen worden. Sie hat sozusagen bewusst 'entartet' gemalt."
Mit 70 Jahren bekommt Mammen große Ausstellungen
In der Kriegs- und Nachkriegszeit schlägt sie sich als Gebrauchsmalerin durch. Aber auch, als das Leben zurückkehrt nach Berlin und der wirtschaftliche Aufschwung da ist, lebt die Künstlerin am Existenzminimum. Wie eine Einsiedlerin zieht sich in ihr Atelier zurück. Erst 1960, sie ist 70 Jahre alt, wird sie wieder entdeckt und bekommt große Einzelausstellungen. In einem ihrer letzten Interviews zieht sie ein Resümee ihres Lebens:
"Es ist überhaupt nichts Wichtiges zu sagen – eine höchst unwichtige Eintagsfliege."
Ihre Bilder hängen heute neben denen von George Grosz, Hannah Höch und Otto Dix, und das Atelier, in dem sie 57 Jahre gelebt hat, wurde zu einem Museum.