"Eine große Halle, viele Gäste, die wir empfangen. Unter ihnen Irma, die ich sofort beiseite nehme. Ich sage ihr: Wenn du noch Schmerzen hast, so ist es wirklich nur deine Schuld. Sie antwortet: Wenn du wüsstest, was ich für Schmerzen jetzt habe im Hals, Magen und Leib. Es schnürt mich zusammen."
Es folgt, immer noch im Traum, eine ärztliche Untersuchung. Irma sträubt sich wie jemand, der ein künstliches Gebiss trägt. Freud weiß, dass sie keines trägt. Sie wirkt bleich. Sonst ist sie rosig. Schließlich öffnet sie den Mund; er entdeckt Flecken und Schorf in ihrem Rachen, ruft nach Dr. M., der aber ganz anders aussieht als sonst, ohne Bart; auch Otto und ein weiterer Kollege treten hinzu. Sie untersuchen Irma zu viert. Die Situation – wie auch die Diagnose – wird immer wirrer.
"M. sagt: Kein Zweifel, es ist eine Infektion, aber es macht nichts: es wird noch eine Dysenterie hinzukommen und das Gift sich ausscheiden. Wir wissen auch unmittelbar, woher die Infektion rührt. Freund Otto hat ihr unlängst, als sie sich unwohl fühlte, eine Injektion gegeben mit einem Propylpräparat, Trimethylamin (dessen Formel ich fettgedruckt vor mir sehe). Man macht solche Injektionen nicht so leichtfertig. Wahrscheinlich war auch die Spritze nicht rein."
Träume als Einfallstore des Unbekannten und Unerklärlichen
Seit Jahrtausenden galten Träume als Einfallstore des Unbekannten und Unerklärlichen. Der Pharao in Ägypten hatte von fetten und mageren Kühen geträumt für die fetten und mageren Jahre, die dem Land bevorstehen sollten. Alexander der Große im Traum ein Weltreich gesehen, Kaiser Konstantin das Zeichen des Kreuzes. Die Bibel und die Mythen der Geschichte sind voll von Eingebungen, die im Schlaf empfangen wurden.
Dass die äußeren Impulse eines Geschehens aber so detailliert festgehalten und ihre Repräsentation im Traum so frisch erfasst und so systematisch sortiert und bewertet werden konnten – das hatte es nie zuvor gegeben. Freud wusste sofort, dass ihm mit dem Traum von "Irmas Injektion" die Entdeckung seines Lebens gelungen war: der Nachweis eines sehr aktiven Unbewussten, das Regeln folgte wie eine eigene Sprache. Und das auch so zu übersetzen war.
Er analysierte den Traum Satz für Satz, Bild für Bild, stieß auf verdeckte Erinnerungen und Widerstände, auf sexuelle Impulse – Irma war eine junge Witwe – und das heimliche Motiv, die Kollegen zu belasten. Eine qualvolle Arbeit, wie er sarkastisch anmerkt.
"Man kann sich’s nicht verbergen, dass schwere Selbstüberwindung dazu gehört, seine Träume zu deuten und mitzuteilen. Man muss sich als den einzigen Bösewicht enthüllen unter all den Edlen, mit denen man das Leben teilt."
Rund 200 Träume analysierte Freud
Freud blieb der Technik treu. Der Traum, so hatte er erkannt, sei ein "vollwichtiger psychischer Akt", ein Paradigma für das Wirken unbewusster, oft unterdrückter Triebe und Affekte – und gerade deshalb der Königsweg zu ihrer Erforschung. Rund 200 Träume analysierte er in den folgenden Jahren, davon zirka 50 eigene. Und vieles, was seine Theorien später auszeichnen sollte, tritt darin erstmals ans Licht des Bewusstseins: der Ödipuskomplex, die Kastrationsangst, die Strukturtheorie, die zwischen den Instanzen des Ich, Es und Über-Ich unterscheidet.
"Glaubst du", so fragte er später einen Freund und Kollegen, "dass an diesem Hause einst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird ‚Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigmund Freud das Geheimnis des Traumes’?" Sein Buch "Die Traumdeutung" war ein halbes Jahr zuvor erschienen, im November 1899. Der Verleger aber hatte es auf 1900 vordatiert – weil auch er wusste und mit dem kleinen Kunstgriff dazu beitragen wollte, dass es ein Jahrhundertwerk werden sollte.