Am Mittag des 13. März 1881 macht sich Zar Alexander II. in St. Petersburg zur Militärparade bereit. Sein Innenminister hat ihn gewarnt, er hatte von neuen Attentatsplänen gehört: zwei Jahre zuvor war die linksterroristische Organisation "Narodnaja Wolja" – Volkswille – entstanden, deren erklärtes Ziel der Sturz des Zaren war. Es hatte bereits mehrere Anschläge auf Alexander II. gegeben, sie hatten ihr Ziel verfehlt.
An diesem Sonntag fährt der Zar eine andere Route als geplant - und entgeht so einer Mine. Nach der Truppenparade befiehlt er seinem Kutscher, zum Winterpalais zurückzukehren. Es ist Viertel vor drei. Von sieben Reiterkosaken und drei Polizeioffizieren begleitet, fährt die geschlossene Kutsche am Katharinenkanal entlang durch den Schnee. Dann plötzlich eine Explosion. Die Bombe verletzt mehrere seiner Begleiter und zerstört Alexanders Gefährt, der Zar bleibt unversehrt. Statt davonzueilen, schaut er sich den Attentäter genau an. Der französische Schriftsteller Henri Troyat schildert die Szene so:
"Der Mörder, den die Polizisten festhalten, blickt ihn von unten mit unverhohlenem Hass an. Als rede er mit einem unerzogenen Kind, fragt der Zar ihn streng: 'Hast du die Bombe geworfen? Das ist ja wirklich unglaublich!' Irgendjemand fragte: 'Sire, ist Eure Majestät nicht verletzt?' Er antwortete: 'Nein, ich bin Gott sei Dank unversehrt.' Ryssakow hebt den Kopf und sagt grinsend: 'Ist es nicht zu früh, um Gott zu danken?'"
Reformen im Militär, in der Justiz und im Bildungswesen
In diesem Moment wirft ein weiterer Attentäter eine zweite Bombe direkt vor die Füße des Monarchen. Der Zar wird lebensgefährlich verletzt, verliert viel Blut und stirbt kurze Zeit darauf im Winterpalais.
Alexander II. ging als Reformer und als "Befreier-Zar" in die Geschichte ein. 1818 wurde er in St. Petersburg geboren. Seine exzellente Bildung verdankte er vor allem seinem Hauslehrer, dem Dichter Wassilij Schukowskij.
Als sein Vater, der despotische Zar Nikolaj I., 1855 mitten im Krimkrieg starb, bestieg Alexander den Thron, er war 37 Jahre alt. Die Niederlage im Krimkrieg 1856 führte aller Welt die Rückständigkeit Russlands vor Augen. Der britische Historiker Orlando Figes charakterisiert diese Zeit so:
"Der Ausgang des Krieges war ein riesiger Schock für Russland. Das Land war voller Optimismus und siegessicher hineingegangen. Die Armee hatte sich sehr schlecht geschlagen, die Marine wurde praktisch zerstört. Als der Krieg zu Ende ging, gab es ein generelles Gefühl, dass ein moderner Staat entstehen müsse, dessen Wirtschaft nicht auf Leibeigenschaft basieren dürfe."
Alexander II. leitete einen dramatischen Systemwechsel ein, den viele Historiker "Große Reformen" nennen. Dazu gehörten Reformen im Militär, in der Justiz, im Bildungswesen. Am wichtigsten war 1861 die Abschaffung der Leibeigenschaft der Bauern, die der Zar gegen den Widerstand der russischen Aristokratie durchsetzte. Die Möglichkeiten der Bauern, selbstbestimmt zu wirtschaften, blieben jedoch begrenzt. Auf die soziale Dynamik, die die Umgestaltung begleitete, reagierte der Monarch mit Repressionen. Der Historiker Heinz-Dietrich Löwe schreibt:
"Die Zeit der 'Großen Reformen' war mindestens ebenso eine Periode tiefster Verunsicherung, wachsender Orientierungslosigkeit und 'sozialer Angst'."
Sein Sohn ließ am Tatort die Auferstehungskirche bauen
Vor allem in studentischen Kreisen, denen die Reformen nicht weit genug gingen, verbreiteten sich kommunistische, sozialistische und anarchistische Ideen. Tausende junge Herren und Damen zogen aufs Land, um die "Muschiks", die Bauern, für ihre Ideen zu begeistern. Meist vergeblich. So nahm die Idee für einen "Schlag ins Zentrum", also die Ermordung des Zaren, in den revolutionären Zirkeln zunehmend Gestalt an.
Nach Alexanders Tod wurden viele Mitglieder der "Narodnaja wolja" verhaftet und fünf Attentäter zum Tode durch Erhängen verurteilt. Auch eine junge Adlige war dabei, Sofija Perowskaja, die erste Frau, die in Russland wegen eines politischen Vergehens gehenkt wurde.
Alexander II. wurde in der Peter-Pauls-Festung in St. Petersburg beigesetzt. Zwei Jahre nach seinem Tod ließ sein Sohn Alexander III. an der Stelle, wo die tödliche Bombe gefallen war, die Auferstehungskirche bauen, auch "Bluterlöserkathedrale" genannt.