Manchmal scheint Komponieren nicht wirklich eine Kunst zu sein. Man nehme ein Kinderlied ("Alle meine Entchen"), verändere Rhythmus und Tonart und heraus kommt ein Thema, das zu den bekanntesten der gesamten Klassikwelt gezählt wird.
Einer der wenigen, der die am 4. April 1875 in Prag uraufgeführte "Moldau" niemals zu hören bekam, ist ihr Schöpfer. Der 50-jährige Bedřich Smetana erkrankt während der Kompositionsarbeit im Herbst 1874 schwer.
"Schon fast eine ganze Woche sitze ich zuhause, darf nicht ausgehen. Muß meine Ohren in Watte eingehüllt haben und volle Ruhe bewahren. Ich fürchte das Äußerste: daß ich völlig mein Gehör verloren habe. Ich höre nichts. Wie lange soll dieser Zustand noch währen? Sollte ich nie mehr genesen?", notiert Smetana zur Zeit der Kompositionsarbeit.
Radikale Programmmusik
"Die Moldau" ist das Herzstück einer sechsteiligen Tondichtung mit dem Titel "Mein Vaterland". Smetana versucht darin, die Sagen und Legenden Böhmens, die Geschichten von ritterlichen Helden und geheimnisvollen Nymphen, vor allem aber die Natur seiner Heimat in Töne zu setzen. Wie viele Mitstreiter im politischen Bereich arbeitet er auf musikalischem Terrain am Aufbau einer nationalen Kultur, die sich der Dominanz der Habsburger Monarchie entgegenstellt. Seine Strategie: eine radikale Programmmusik, also eine Musik, deren Komposition nicht nur innermusikalischen Gesetzen und Strukturen folgt, sondern auf Außermusikalisches verweist. Smetana selbst erläutert das Konzept seiner Tondichtung:
"Die Komposition schildert den Lauf der Moldau, angefangen bei den beiden kleinen Quellen, der kalten und der warmen Moldau, über die Vereinigung der beiden Bächlein zu einem Fluss, den Lauf der Moldau durch Wälder und Fluren, durch Landschaften, wo gerade eine Bauernhochzeit gefeiert wird, beim nächtlichen Mondschein tanzen die Nymphen ihren Reigen. Auf den nahen Felsen ragen stolze Burgen, Schlösser und Ruinen empor."
Wie Beethoven nimmt er Natureindrücke oft persönlich auf, nutzt sie als Anregung unmittelbar. "Heute habe ich einen Ausflug zu den Sankt-Johann Stromschnellen unternommen. Da haben wir Mittag gegessen und sind durch die Wälder bis zum Sankt Johann Tor und danach sind wir mit einem Boot den Strom herab. Hohes Wasser, der Anblick der Landschaft herrlich und großartig."
Smetana, innerhalb der tschechischen Nationalbewegung durchaus nicht unumstritten, trifft mit der "Moldau" wie kein zweiter Komponist den Nerv seiner Zeit. Seine Musik wird zum populären Ausdruck der Sehnsucht nach einem unabhängigen Tschechien, vor allem in der Besinnung auf die mit kräftigen Strichen genial gezeichnete Natur.
Das Publikum jubelt – aber nicht alle Kritiker
Dennoch stößt das Stück bei der Kritik keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Mancher mag die Ambivalenz vorausahnen, die einer allzu patriotisch motivierten Musik eben auch innewohnt. Der Kritikerpapst des 19. Jahrhunderts, der Wiener Eduard Hanslick, beschreibt spöttisch das musikalische Pathos, wenn die Moldau die sagenumwobene Prager Burg erreicht:
"Das ganze Orchester mit Becken und großer Trommel gerät in Aufruhr und vollführt ein patriotisch übertreibendes Getöse, das den Moldau-Wirbel für einen zweiten Niagara-Fall ausgeben möchte."
Und doch folgt der Nationalismus Smetanas keiner rückwärtsgewandten Idee von einer vermeintlich schützenden Abgeschlossenheit gegen alles Fremde. Auch als am Ende, wenn der Fluss schließlich in die Elbe mündet, Smetana ins triumphal patriotische E-Dur wechselt.
Die Uraufführung wird zu einem riesigen Erfolg für den mittlerweile völlig ertaubten Smetana, einhellig huldigt ihm ein jubelndes Publikum. Mit der "Verkauften Braut" hatte er bereits im Bereich der Oper ein bis heute in seiner Beliebtheit ungebrochenes Werk hinterlassen. Mit der "Moldau" begründete er endgültig eine nationale tschechische Musik.