"Und alle, die den wackern Jüngling kennen,
Sie müssen liebend seinen Namen nennen!"
Ferdinand Cohen-Blind, so lautete der Name des "Jünglings". Der Vers des Lobgedichts entstand, nachdem dieser junge Mann am frühen Abend des 7. Mai 1866 in Berlin ein Attentat auf Otto von Bismarck verübt hatte. Trotz der insgesamt fünf Schüsse, zwei davon Körpertreffer, blieb es erfolglos: Der dicke Überzieher des Grafen hatte die Kugeln aufgehalten oder ihre Durchschlagskraft gemindert. Noch am Abend jenes Tages vermochte Bismarck, seit 1862 preußischer Ministerpräsident, plaudernd davon zu erzählen:
"Ich ging 'Unter den Linden' auf dem Fußweg zwischen den Bäumen nach Hause. Als ich in die Nähe der russischen Gesandtschaft gekommen war, hörte ich dicht hinter mir zwei Pistolenschüsse. Ich drehte mich unwillkürlich rasch um und sah etwa zwei Schritte von mir einen kleinen Menschen, der mit einem Revolver auf mich zielte.
Ich griff nach seiner rechten Hand, während der dritte Schuss losging, und packte ihn zugleich am Kragen. Er fasste aber schnell den Revolver mit der linken, drückte ihn gegen meinen Überzieher und schoss noch zweimal. Eine Rippe tat zwar etwas weh, ich konnte aber zu meiner Verwunderung bequem nach Hause gehen."
Abschiedsbrief an den verehrten Stiefvater
Während Bismarck hinter dem Anschlag ein Mordkomplott radikaler Demokraten vermutet, wurden vor allem in Süddeutschland das Attentat und Cohen-Blind gefeiert. Der nahm sich im unmittelbar den Schüssen folgenden Polizeigewahrsam das Leben: Er öffnete sich mit einem versteckten Messer die Halsschlagader und starb wenige Stunden später. In einem Zeitungsbericht hieß es:
"Niemand darf sich trauen, den jungen Mann für einen schlechten Menschen zu erklären, der sein Leben daran gegeben hat, um das Vaterland von einem solchen Unhold zu befreien."
In einem Brief an seinen verehrten Stiefvater, den mit der Familie nach England geflohenen badischen Freiheitskämpfer Karl Blind, umriss der Attentäter seine Motive:
"Schon früh tauchte der Gedanke öfter in mir auf, dass die einzige Lösung der so verwickelten Lage in Deutschland die Beseitigung Bismarcks sei. Auf der Reise jedoch überzog mich ein rechtes Schamgefühl, dass sich niemand in Deutschland findet, der den Verräter beseitigte. Es ist doch wenigstens des Probierens wert, durch das Opfer zweier Menschen viele zu retten."
Kampf gegen die kleindeutsche Sache
Cohen-Blind dachte dabei an die Toten des drohenden Krieges. Den sollte Preußen – jedenfalls im machtpolitischen Kalkül Bismarcks - gegen Österreich führen. Besonders nach dem Krieg gegen Dänemark 1864, den Preußen noch mit Österreich gemeinsam siegreich zu beenden gewusst hatte, waren die Konflikte zwischen den beiden Monarchien offen zutage getreten.
Es ging namentlich in Bismarcks Strategie um eine sogenannte kleindeutsche Lösung: Ein einheitliches Deutschland – ohne die multiethnische Habsburger Monarchie – und unter preußischer Führung bildeten das Ziel. Es war in Bismarcks Augen nicht ohne Krieg zu haben. Dafür nahm er gar die Gewissheit in Kauf, dass Sachsen auf der Seite Österreichs kämpfen würde.
Bereits im September 1862 hatte er in seiner bald berühmt-berüchtigten "Blut und Eisen"-Rede ausgeführt:
"Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht. Preußens Grenzen sind zu einem gesunden Staatsleben nicht günstig; nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut."
Alles andere als beliebt
Diese Gesinnung minderte lange Zeit Bismarcks Ansehen. Der Historiker Volker Ullrich:
"In der Tat ist es so, dass Bismarck 1866 – also vor Beginn des Krieges zwischen Österreich und Preußen – keineswegs beliebt war, im Gegenteil, er war außerordentlich verhasst. Er galt als ein ganz skrupelloser Gewaltpolitiker."
Und – nicht nur aus Sicht des Attentäters – auch als Verräter an der großdeutschen Sache. Denn die zwar romantisch verblendete, doch durchaus demokratische Vaterlandsbegeisterung Cohen-Blinds und anderer huldigte eben jener großdeutschen Lösung, nach der die deutschen Länder, auch Preußen, sich mit Österreich verbünden sollten. Auf keinen Fall aber durfte ein Krieg zwischen den Brudervölkern ausbrechen.
Doch es kam anders. Schon gut zwei Monate nach dem Attentat, am 3. Juli 1866, dem Tag des preußischen Sieges bei Königgrätz, sahen die einstigen Kritiker Bismarck mit neuen Augen. Quasi über Nacht wandelte er sich in ihrer Wahrnehmung zum Retter Preußens und zum Baumeister eines noch zu schaffenden deutschen Reiches.