Im Wintermantel und mit Baskenmütze, den spitzen, weißen Bart nachlässig gestutzt, sitzt Pío Baroja am Schreibtisch, blickt grüblerisch in ein Buch. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme ist wohl das berühmteste Foto des großen spanischen Schriftstellers. Sie zeigt ihn als mürrischen Einzelgänger, so wie ihn seine Zeitgenossen sahen.
Ein nüchterner Mann
Überbordende Gefühle scheinen Pío Baroja, geboren am 28. Dezember 1872 in San Sebastián, fremd. Selbst wenn er für eine Plattenaufnahme einen seiner raren lyrischen Texte rezitiert – wie hier das „Sentimentale Lob des Akkordeons“ – klingt er nüchtern.
„Oh, Ihr bescheidenen, sympathischen Akkordeons! Ihr erzählt keine poetischen Lügen wie die protzige Gitarre, setzt den Menschen keine Flausen in den Kopf wie das schrille Horn oder die kriegerischen Trommeln. Ihr gehört in unsere Zeit: bescheiden, ehrlich, etwas rüpelhaft, vielleicht auf lächerliche Weise volkstümlich. Aber ihr drückt aus, was das Leben wohl wirklich ist: eine vulgäre Melodie, eintönig, grobschlächtig gegenüber der Grenzenlosigkeit des Horizonts.“
Ein feinfühliger Beobachter
Pío Barojas Blick auf die Welt mag pessimistisch sein; er selbst ist ein feinfühliger Beobachter. Er wächst in einem gut situierten, kunstinteressierten Haushalt als drittes von vier Kindern auf. Die Mutter ist Italienerin; der Vater Bergbau-Ingenieur und Journalist. Die Familie zieht häufig um. In Madrid studiert Pío Medizin, äußerst widerwillig. Nach einer ernüchternden Erfahrung als Landarzt hängt er den Beruf an den Nagel, reist durch Spanien und Europa und beginnt zu schreiben.
1900 veröffentlicht er „Vidas Sombrías“, seinen ersten Erzählband. Die Schilderungen seiner baskischen Landsleute begeistern den einflussreichen Universitätsprofessor Miguel de Unamuno. Baroja lernt Azorín und die Brüder Machado kennen. Der geistige Verfall des einstigen Weltreichs Spanien, das 1898 seine letzten Kolonien verloren hat, wird zu ihrem großen, gemeinsamen Thema. In „Der Baum der Erkenntnis“, seinem wichtigsten Werk, skizziert Baroja die seltsame Mischung aus Selbstüberschätzung und Selbstmitleid, die damals in Spanien herrschte.
„Wenn man in Frankreich oder Deutschland nicht über die Angelegenheiten Spaniens sprach oder darüber lachte, lag das daran, dass diese Länder uns hassten. Schließlich hatten wir große Männer, um die alle uns beneideten. Ganz Spanien, und vor allem Madrid, schwelgte in einer Art absurdem Optimismus: Alles Spanische war besser. Dieser Hang zum Selbstbetrug, dieser Wunsch eines armen Landes, sich abzukapseln, führte zum Stillstand.“
Ein Skeptiker
Während sich seine Schriftsteller-Kollegen politisch zunehmend für konservativere Positionen stark machen, bleibt Baroja ein Skeptiker. Mehr als Politik und Gesellschaft interessiert ihn das Individuum: Barojas Charaktere werden immer auch von ihren sozialen Umständen bestimmt. Sie kämpfen und ringen mit sich und der Welt. Das macht sie authentisch, selbst wenn er sie nur in wenigen Sätzen beschreibt, wie seine umstrittenen Frauenfiguren, sagt der Verleger Joaquin Ciáurriz:
„Es gibt dieses Vorurteil, dass Baroja ein Frauenhasser gewesen sei. Das Gegenteil ist der Fall: Seine Frauenfiguren sind präzise und gewissenhaft gezeichnet: Es sind Heldinnen, die um ihren Freiraum kämpfen, um Unabhängigkeit von ihren Männern, und die als intellektuell ebenbürtig wahrgenommen werden möchten.“
In seinem eigenen Leben ist für Frauen – mit Ausnahme der Mutter und der ebenfalls schreibenden kleinen Schwester Carmen – kein Platz. Pío Baroja bleibt bis zu seinem Lebensende Junggeselle.
Als er am 30. Oktober 1956 in Madrid mit 83 Jahren stirbt, geben ihm Hemingway und der spätere Literatur-Nobelpreisträger Camilo José Cela das letzte Geleit. Der mit über 35 Romanen und Novellen produktivste Schriftsteller der sogenannten Generation von 1898 gehört noch heute fest zum kulturellen Kanon Spaniens.
„Kein Autor der Generation von 1898 ist heute populärer als er. Was ihm die Puristen seiner Zeit vorwarfen, nämlich den Mangel an einem eigenen, unverkennbaren Stil, macht ihn heute zu einem modernen Klassiker, der von jedem, gleich welchen Alters, gelesen werden kann", sagt der Verleger Joaquin Ciáurriz.