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Vor 150 Jahren
Friedrich Nietzsche begeisterte mit Antrittsvorlesung in Basel

1869 ernannte die Universität Basel den 24-jährigen Friedrich Nietzsche ohne vorherige Habilitation zum Professor für griechische Sprache und Literatur. Für den Vielbegabten begann eine bewegende Zeit. Doch nur zehn Jahre später konnte Nietzsche sein Amt als Professor nicht länger ausüben.

Von Christoph Vormweg |
    Zeitgenössisches Porträt des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche
    Etwas dürfe man mit Nietzsche nie tun: ihn vereindeutigen, so der Philosoph und Literaturwissenschaftler Ludger Lütkehaus (picture alliance / Bifab)
    "Noch nie habe ich einen jungen Mann gekannt […], der so früh und so jung schon so reif gewesen wäre wie dieser Nietzsche."
    Mit diesen Worten preist der Leipziger Professor Friedrich Wilhelm Ritschl seinen Doktoranden bei den Kollegen in Basel an. Und die Schweizer greifen zu. Ohne vorherige Habilitation vertrauen sie dem 24-Jährigen die Professur für griechische Sprache und Literatur an. Zweifel hat nur Friedrich Nietzsche selbst.
    "Vielleicht gehöre ich überhaupt nicht zu den spezifischen Philologen. […] Es fehlte an einigen äußeren Zufälligkeiten, sonst hätte ich es gewagt, Musiker zu werden."
    Der Pastorensohn Nietzsche findet in Basel findet neben dem Moralphilosophen Arthur Schopenhauer sein zweites Idol: den Komponisten Richard Wagner, der im nahen Tribschen ein Landhaus bezogen hat. An beiden schätzt er "die ethische Luft, den faustischen Duft, Kreuz, Tod und Gruft."
    Inspiration durch den Komponisten Richard Wagner
    Nach einem ersten Besuch dankt Nietzsche Wagner mit den Worten:
    "Sehr verehrter Herr, wie lange habe ich schon die Absicht gehabt, einmal ohne alle Scheu auszusprechen, welchen Grad von Dankbarkeit ich Ihnen gegenüber empfinde; da sich tatsächlich die besten und erhobensten Momente meines Lebens an Ihren Namen knüpfen."
    Am 28. Mai 1869 hält Friedrich Nietzsche seine Antrittsvorlesung an der Universität Basel.
    "Gestern hielt ich vor ganz gefüllter Aula meine Antrittsrede, und zwar ‚über die Persönlichkeit Homers‘, mit einer Menge von philosophisch-ästhetischen Gesichtspunkten, die einen lebhaften Eindruck hervorgebracht zu haben scheinen", schreibt Nietzsche an Erwin Rhode nach Italien. Doch schon zweieinhalb Wochen später gesteht er dem Freund:
    "Es tritt allmählich das ein, was ich von Anfang an sicher erwartete: Ich fühle mich unter der Masse meiner geehrtesten Kollegen so recht fremd und gleichgültig, dass ich bereits mit Wollust Einladungen und Aufforderungen aller Art […] zurückweise. [...] Darin stimmen wir also wieder einmal überein: Wir können die Einsamkeit vertragen, ja wir lieben sie."
    Inspiration findet Jungprofessor Nietzsche nur bei Wagner in Tribschen. Noch ist er nicht das freischwebende Genie, der Meister der philosophischen Aphorismen. Doch hat Wagners Einfluss auf seine ersten Basler Werke Konsequenzen. Sogar sein Leipziger Ziehvater Ritschl wendet sich ab. Statt exakter philologischer Methode, klagt er, finde man nur philosophische Spekulation.
    Versuch und Versuchung als Lebensmaxime
    "Also Basel war außerordentlich liberal." So Professor Ludger Lütkehaus im Südwestrundfunk anlässlich der Nietzsche-Feiern im Jahr 2000.
    "Die Liberalität fand [...] ihre Grenzen, als Nietzsche etwa das Sokrates-Bild attackierte."
    Denn er lässt sich, angestiftet von Wagner, auch zu antisemitischen Äußerungen hinreißen.
    Ludger Lütkehaus: "Aber man muss sich hüten, in all diesen Dingen zu verabsolutieren. Nietzsche ist ja gerade deswegen als Existenz, als Existenzentwurf und als Philosoph so aufregend, weil er vieles durchprobiert, weil er Versuch und Versuchung zur Lebensmaxime macht."
    1872 provoziert Nietzsche mit seinem philosophisch-kulturhistorischen Werk "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik".
    Ludger Lütkehaus: "Die ‚Geburt der Tragödie‘ ist für meinen Eindruck – ich habe sie vielleicht in meinem Gelehrtenleben etwa zehn Mal gelesen – das konfuseste, anregendste, ambivalenteste Werk von Nietzsche überhaupt. […] Etwas mit Nietzsche darf man nie tun: Man darf ihn nicht vereindeutigen."
    Bruch mit Wagner
    Basel wird für Nietzsche so etwas wie eine Schicksalsstadt. Die huldvolle Verehrung Wagners kippt in nackte Aversion um. Nach dem Bruch beginnt die Selbstfindung. Doch Nietzsches gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich. Migräneanfälle und Magenprobleme peinigen ihn. Nach zehn Jahren kann er sein Amt als Professor nicht länger ausüben. Einige der wichtigsten Texte der Basler Zeit sind da noch gar nicht publiziert, etwa "Über das Pathos der Wahrheit" oder "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn".
    Ludger Lütkehaus: "In ihnen steckt der ganze spätere Nietzsche, der mit Wahrheit als philosophischer Kategorie bricht. Das sind die Texte, die Nietzsches Modernität im Übermaß garantiert haben. Das ist Nietzsche als Sprach-, als Philosophie-, als Ideologie-Kritiker in Reinform. Das dürfen wir nie vergessen, wie weit Nietzsche sich schon in Basel gewissermaßen selber voraus ist."
    Aus dem Philologen Nietzsche wird in Basel der Philosoph Nietzsche. Dort schafft er die Grundlage für seinen posthumen, weltweiten Ruhm.