"And so, ladies and gentlemen, I come to the following conclusion: I discovered twenty years ago the inferiority complex which had been proved to be very worthwhile a key for understanding human nature and personalities."
Minderwertigkeitskomplex entdeckt
Ein Sommertag 1929. Alfred Adler steht in einem Park seiner Heimatstadt Wien vor einer Kamera und wendet sich an ein Publikum in Amerika. Er habe, so verkündet der Psychologe in etwas mühsamem Englisch, 20 Jahre zuvor einen Schlüssel gefunden, mit dessen Hilfe sich das Wesen des Menschen als Ganzes erfassen lasse, nicht nur pathologische Symptome, sondern endlich auch die erfolgreiche Entfaltung der Persönlichkeit.
Adler ist eher klein und untersetzt, aber sein Stolz ist ihm anzuhören. Seine Entdeckung nennt er den Minderwertigkeitskomplex – keine sehr glückliche Bezeichnung, so kritisiert heute der Psychologiehistoriker Helmut Lück, für ein Konzept, das ein ganzes Menschenbild revolutionieren sollte:
"Ich glaube, der Begriff ist nicht so ganz ideal. Er wirkt ja auch so ein bisschen wie krankhaft oder so was. Das meinte Adler auch nicht. Er hat davon gesprochen, dass wir Menschen alle dieses Minderwertigkeitsgefühl erleben – wir durchlaufen das alle auch. Zum Beispiel in der Kindheit: Das Kind kann vieles noch nicht. Es kommt nicht an die Türklinke oder an den Lichtschalter, es kann noch nicht Fremdsprachen, versteht noch nicht alle Worte und so. Daraus erwächst aber ein Bemühen um Überlegenheit, Anerkennung, Sympathie, Freundschaft – alles, was wir im Leben so erreichen wollen, drückt sich mit diesem Begriff ja schon aus."
"As I have explained: An individual is a unity from beginning of life. … Das Individuum ist von Anfang an eine Einheit. Sein Leben lässt sich nicht verbessern ohne Kenntnis der Fehler, die schon sehr früh gemacht wurden. Und die Familie ist die erste Instanz, in der das Individuum geformt wird. … in which each individual is formed and molded."
Die großen drei - Freud, Jung und Adler
Alfred Adler, geboren am 7. Februar 1870, damit 14 Jahre jünger als Sigmund Freud, gehörte bald zu dessen erlauchter Mittwochsgesellschaft, zu der auch ein Carl Gustav Jung stieß, um gemeinsam die Tiefenpsychologie zu einem umfassenden Modell des Menschen auszubauen.
Adler galt dort als Ideenproduzent, ein junger Mediziner, hochintelligent, originell und dynamisch – doch ein paar Jahre später schon, 1911, als Dissident, dessen Menschenbild das fundamentale Gegenteil zur psychoanalytischen Praxis Freuds darstellte. Nicht in der sezierenden Analyse von Trieben und Traumata nämlich sah Adler den Weg, das Wesen des Menschen zu erfassen, sondern im Gegenteil: in der Betrachtung des Einzelnen und seiner Geschichte als Individuum, als unteilbare Einheit. Freud hat ihm diese Emanzipation nie verziehen. Noch nach Adlers Tod 1937 schrieb der tief gekränkte Vater der Psychoanalyse dem Abtrünnigen hinterher, für einen Judenjungen aus der Vorstadt habe er es doch recht weit gebracht.
"Freud war noch eine Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Bei Adler finden wir neue Themen. Er ist eher eine Person, die im 20. Jahrhundert gelebt hat. Und ganz besonders natürlich in der Zeit zwischen den Weltkriegen, in der Zeit des ‚roten Wien‘ von 1919 bis Mitte der 30er-Jahre: Da war Adlers große Zeit, da war er sehr viel bekannter als Freud."
Die ganze Stadt ein Laboratorium für moderne Erziehung – und die regierenden Sozialdemokraten ließen Adler Platz. Allein 30 Beratungsstellen arbeiteten nach den Erkenntnissen seiner Individualpsychologie, um Kindern und ihren Erziehern zu zeigen, wie sich das Gefühl von Minderwertigkeit in eine positive Kraft umsetzen lässt:
"Adler hat mal gesagt, dieses Gefühl ist eigentlich ein Segen für die Menschheit. Das klingt komisch, ist aber sicher richtig. Weil eben vieles – Leistungsstreben, Erfolgsstreben und vieles, was wir im Leben bewundern - daraus hervorgeht."
Als die Nazis die Reformprogramme im Bildungswesen unterbanden, lebte Adler längst in den USA. Seine Lehre gilt dort bis heute als Entwurf für ein gerechteres Leben.