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Vor 150 Jahren geboren
Helene Stöcker attackierte die sexuellen Tabus ihrer Zeit

Für freie Liebe und das Recht auf ledige Mutterschaft kämpfte die Publizistin Helene Stöcker. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderte die Publizistin öffentlich, das Verbot von Abtreibung aufzuheben. Ihre Bestrebungen wurden damals sowohl von Männern als auch von Frauen des Bürgertums abgelehnt.

Von Regina Kusch |
    Das zeitgenössische Porträt zeigt die deutsche Frauenrechtlerin und Publizistin Helene Stöcker.
    Die deutsche Frauenrechtlerin und Publizistin Helene Stöcker war selbst nie verheiratet (dpa / Bifab)
    "Ich kann kaum mehr beschreiben, mit wie ungeheurer Wut dieser erste Einblick in die Gewalt und Tragik der Geschlechterbeziehungen auf mich damals gewirkt hat. Welche Gefahren, welche Schicksale einer Frau drohten, wenn die Liebe in ihr Leben trat, das stand hier in der vollen Krassheit eines vernichtenden Schicksals vor mir."
    Das schrieb Helene Stöcker nach der Lektüre von Goethes "Faust" in ihr Tagebuch. Die Tragik Gretchens, ihre ungewollte Schwangerschaft und die verzweifelte Tötung ihres Kindes, brachte die Fabrikantentochter schon früh dazu, sich mit den Tabuthemen der wilhelminischen Gesellschaft auseinanderzusetzen: mit Sexualität, Verhütung, Prostitution oder der Diskriminierung lediger Mütter. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderte sie öffentlich, das Verbot von Abtreibung aufzuheben.
    1905 gründete Helene Stöcker den "Bund für Mutterschutz", dessen Ziele die Literaturwissenschaftlerin und Frauenforscherin Isabel Rohner so beschreibt: "Ziel dieses Bundes für Mutterschutz war, eine Infrastruktur zu schaffen, auch Beratungsangebote für ledige Frauen, für ledige Mütter, auch Mütterheime wo ledige Frauen Unterschlupf finden konnten. Helene Stöcker setzte sich für eine Mutterschaftsversicherung ein, die die Schwangerschaft abdecken sollte und die Zeit im Wochenbett, wenn Frauen also einfach nicht mehr arbeiten konnten, aber die auch einspringen sollte, wenn kein Vater da war."
    Eine der ersten Frauen an der Universität
    In ihrem Buch "Die Liebe und die Frauen" forderte Helene Stöcker, Beziehungen ohne Trauschein gesellschaftlich nicht zu verurteilen:
    "Man muss es nur einmal recht erfassen, welcher Widersinn darin liegt: Die große Bedeutung der Frau für die Menschheit liegt in der Mutterschaft. Und doch hat man sich nicht gescheut, jede Mutterschaft der Frau außerhalb der Vaterrechts-Ehe ihr als ein Verbrechen anzurechnen."
    Helene Stöcker wurde am 13. November 1869 in Elberfeld geboren, als älteste von acht Geschwistern. Nach dem Besuch der städtischen Höheren Töchterschule verließ sie mit 22 ihr Elternhaus. Ein Jahr später legte sie in Berlin das Lehrerinnenexamen für höhere Mädchenschulen ab und veröffentlichte in der Zeitschrift "Freie Bühne" ihren ersten Artikel mit dem Titel "Die moderne Frau", in dem sie selbstbestimmte Sexualität und gleichberechtigte Bildungschancen propagierte. Frauen waren in der Wissenschaft unerwünscht. Ein Universitätsstudium wurde ihnen bis 1908 verwehrt. Stöcker schaffte es trotzdem in die Hörsäle, wie Isabel Rohner beschreibt:
    "Sie hat es dann geschafft, als eine der ersten Frauen Gasthörerin zu werden an der Universität in Berlin. Einen Abschluss machen konnte sie aber nicht, hat ein Semester es tatsächlich geschafft, in Glasgow zu studieren und ist dann nach Bern gegangen. In der Schweiz war es schon ab Mitte des 19. Jahrhunderts möglich, dass Frauen studieren konnten. Sie hat einen Abschluss gemacht als Dr. phil., ging dann wieder zurück nach Berlin und fing da in dieser Zeit an, sich politisch auch zu äußern und sich für eine verbesserte rechtliche ökonomische Situation von Frauen einzusetzen."
    Finanzielle Abhängigkeit von ihrem Mann
    Mit Minna Cauer, Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg gründete Helene Stöcker 1902 den "Verband für Frauenstimmrecht" und übernahm ein Jahr später die Redaktion der kulturpolitischen Zeitschrift "Frauenrundschau", die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, energisch die Missstände, unter denen Frauen zu leiden hatten, anzuprangern. Sie selber war nie verheiratet. Sie lebte von den Honoraren für ihre Publikationen als Sexualwissenschaftlerin und -reformerin. Ihr Lebensgefährte, der Rechtsanwalt Bruno Springer, unterstützte sie finanziell, wie Isabel Rohner ausführt:
    "Ihre Beziehung war irgendwann nicht mehr glücklich. Aber Helene Stöcker hatte nicht die finanziellen Mittel, sich von ihm zu trennen. Das lag nicht an Stöcker, sondern das lag am gesellschaftlichen Diskurs und den Möglichkeiten, die Frauen hatten oder eben auch vor allem nicht hatten. Helene Stöcker hat mit Bruno Springer zusammengelebt in einer schönen Wohngegend in Berlin, bis er 1931 gestorben ist."
    Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde Helene Stöcker radikale Pazifistin. Ab 1922 war sie zehn Jahre lang Vorsitzende der "Deutschen Liga für Menschenrechte". Nach der Machtübernahme Hitlers emigrierte sie in die Schweiz. Die Nationalsozialisten erkannten ihr die deutsche Staatsbürgerschaft und ihre Doktorwürde ab, beschlagnahmten ihr Vermögen und vernichteten ihre Manuskripte.
    Über Schweden und Japan emigrierte Helene Stöcker schließlich in die Vereinigten Staaten. Sie starb 1943 - verarmt, schwer krank und einsam in New York.