Unüberhörbar zogen ab 1881 täglich Verkäufer auf Milchwagen der "Meierei Carl Bolle" durch Berlin und taten per Handglocke ihr Kommen kund. Doch 1897 schrillten bei "Bimmel-Bolle" selbst plötzlich die Alarmglocken, als die junge Wissenschaftlerin Lydia Rabinowitsch entdeckte, dass über die Milch tuberkulöser Kühe auch Menschen infiziert werden können. Als daraufhin die Mitarbeiterin Robert Kochs den Auftrag erhielt, die Produkte der größten Berliner Meierei genauer auf Tuberkelbazillen zu untersuchen, entbrannte der sogenannte Berliner Milchkrieg: Aus Angst vor Umsatzeinbußen jubelte ihr die Firma Bolle nämlich statt der Rohmilch bereits abgekochte und damit bakterienfreie Proben unter. Lydia Rabinowitsch stellte Strafanzeige, gewann schließlich den langjährigen Gerichtsprozess – und war seither stadtbekannt.
Mikrobiologie-Pionierin und Mutter von drei Kindern
"Sie hat sich dann sehr stark gemacht um den Schutz der Milch, und zwar in Bezug darauf, wenn Milch genutzt wurde zur Ernährung von Säuglingen, die nicht gestillt werden konnten", sagt die Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin Katharina Graffmann-Weschke, die eine Biografie über Lydia Rabinowitsch-Kempner geschrieben hat. Die sei als eine der wenigen Wissenschaftlerinnen auch noch Mutter von drei Kindern gewesen.
Assistentin von Robert Koch - unbezahlt
Lydia Rabinowitsch wird am 22. August 1871 im litauischen Kaunas geboren. Wie alle neun Kinder der wohlhabenden jüdischen Familie bekommt sie eine gute schulische Ausbildung.
Aber weil sie in ihrer Heimat als Frau damals nicht studieren darf, geht die erst 18-Jährige in die fortschrittlichere Schweiz, so Rabinowitsch-Biografin Graffmann-Weschke:
"Sie hat Pädagogik, Germanistik studiert unter anderem, aber auch Zoologie und Botanik, wo sie dann promoviert hat 1894 in Bern. Und das war offenbar für dieses neue Fach Bakteriologie das Entscheidende, sodass sie eine Chance hatte, bei Robert Koch in Berlin dann arbeiten zu dürfen."
Weltweit beachtet - von männlichen Kollegen belächelt
Als seine unbezahlte Assistentin. Ihre bakteriologischen Forschungsarbeiten finden zwar weltweit Beachtung, aber im Königlich Preußischen Institut für Infektionskrankheiten wird sie von den männlichen Kollegen nicht ernst genommen. Nach nur einem Jahr, 1895, geht sie in die USA, schildert Katharina Graffmann-Weschke:
"Offenbar hat sie ein attraktives Angebot bekommen, und zwar vom Women’s Medical College in Philadelphia, und sie hat dort einerseits gelehrt, und andererseits hat sie versucht, auch weiter dort zu forschen, was aber extrem schwierig war, so dass sie immer die Hälfte des Jahres fast in Amerika war, und die andere Hälfte wieder zurück dann zu Robert Koch ans Institut gegangen ist."
Als sie hier dem Mediziner Walter Kempner begegnet, kehrt sie 1898 nicht wieder in die USA zurück. Die beiden heiraten, und Lydia Rabinowitsch-Kempner bekommt in kurzen Abständen drei Kinder. Dennoch arbeitet sie weiter als Forscherin, engagiert sich für Frauenrechte und gründet unter anderem den "Verein zur Gewährung zinsfreier Darlehen für studierende Frauen". Vor allem aber wirft sie sich in den wissenschaftlichen Kampf gegen die Tuberkulose - an die sie Tochter und Ehemann verloren hatte.
Erste Frau mit Professorentitel in Berlin
1912 wird Lydia Rabinowitsch-Kempner von Kaiser Wilhelm II. der Professorentitel verliehen: als zweiter Frau in Preußen, als erster in Berlin. Aber eine Lehrbefugnis erhält sie dadurch nicht. Erst ab 1920, als sie die Leitung des Bakteriologischen Instituts am Städtischen Krankenhaus Moabit übernimmt, bekommt sie ein festes Gehalt.
Zu krank, um NS-Deutschland noch zu verlassen
1934 verliert sie wegen ihrer jüdischen Herkunft ihre Anstellung. Schwer krank und zu schwach, um Deutschland zu verlassen, stirbt Lydia-Rabinowitsch-Kempner 1935 in Berlin. Aber über ihre internationalen Kontakte ermöglicht sie es ihren Söhnen noch, in die USA zu emigrieren, so Katharina Graffmann-Weschke:
"Ihr Sohn Walter Kempner wurde ein berühmter Mediziner in Amerika, und der Jurist Robert Kempner hat eine große Rolle gespielt als stellvertretender Hauptankläger bei den Nürnberger Prozessen.
Die Arbeit ihrer Mutter, der Tuberkuloseforscherin Lydia Rabinowitsch-Kempner, geriet durch die NS-Zeit fast völlig in Vergessenheit und wurde erst seit den 1980er Jahren wieder wahrgenommen und gewürdigt.