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Vor 150 Jahren geboren
Paul Valéry und die Suche nach dem reinen Geist

Durch seine "kristalline Dichtung" suchte Paul Valéry einen von Gefühlen ungestörten "reinen Geist". Unterdessen warfen zwei Liebschaften den Familienvater aus der Bahn. Am 30. Oktober 1871 wurde der engagierte Intellektuelle in Südfrankreich geboren.

Von Christoph Vormweg |
    Der französische Lyriker Paul Valéry (1871-1945)
    Paul Valéry um 1945 (picture alliance/Everett Collection)
    "Der Krieg findet statt zwischen Ländern, die frei sind und einem Land, das nicht frei ist. Krieg der Vernunft gegen den Wahnsinn. […] Krieg des Geistes gegen die Unterdrückung allen Denkens."
    Paul Valéry, Poetik-Professor am berühmten "Collège de France" in Paris, äußert sich 1939 in einer Rundfunkansprache zum Krieg zwischen Frankreich und dem nationalsozialistischen Deutschland.
    "Mit einem noch glühenderen Vertrauen in das Volk appellieren wir an die Brüderlichkeit der Franzosen, an die Liebe für eine Zivilisation, die aus uns gemacht hat, was wir sind: freie Menschen, würdig und treu der großen Tradition der abendländischen Kultur."

    27.000 Seiten Notizen - Paul Valérys legendäre "Cahiers"

    Paul Valéry, Repräsentant des geistigen Frankreichs. Er versteht es, alle literarischen Register zu ziehen, auch das der Rede ans Volk. Frei fühlt er sich aber nur im Morgengrauen, wenn er sich, befeuert von starkem Kaffee und Zigaretten, über seine "Cahiers" beugt, seine Schreibhefte. Sie sind kein klassisches Tagebuch, sondern das einzigartige, 27.000 Seiten umfassende Dokument seiner Erkenntnisprozesse:
    "Ich tat nichts anderes, als Notizen und Ideen anzuhäufen, frei von jeder Absicht, sie zu verwenden. Ich fand eine beinahe animalische Befriedigung dabei, meinen Geist zu üben." Das meiste bleibt Fragment - auch Paul Valérys dramatische Dichtung "Mein Faust" oder sein "Monsieur Teste". Der berühmte erste Satz ist Programm: "Dummheit ist nicht meine Stärke."

    Dichter präziser Mehrdeutigkeiten

    Paul Valéry, geboren am 30. Oktober 1871 im südfranzösischen Sète, ist dem "reinen Geist" auf der Spur. Erst versucht er es mit Versen, inspiriert von seinem Vorbild Stéphane Mallarmé. Doch 1892, nach einer Krisennacht mit schweren Gewittern in Genua, schwört er der Dichtung ab. Nach seinem Jura-Studium folgen Brotberufe als Privatsekretär und Redakteur. Erst 1912 fängt Valéry wieder an zu reimen – mit unerwartetem Erfolg. Rainer Maria Rilke wird zum kongenialen Übersetzer vieler seiner Gedichte ins Deutsche.
    "Deine Schritte, als meines Schweigens
    Kinder, arglos und langsam gesetzt,
    nahn sie dem Bette, wo ich mich eigens
    wachsam halte, und frieren jetzt."
    So erwartungsvoll beginnt Valérys Gedicht "Die Schritte". Es endet mit den berühmten Versen:
    "denn ich lebte vom Dich-Erwarten
    und mein Herz war nichts als dein Schritt."
    Ist es ein Liebesgedicht? Oder die Beschreibung der oft qualvoll langsamen dichterischen Inspiration? Valéry, 1925 aufgenommen in die Académie française, ist ein Dichter präzis gefeilter Mehrdeutigkeiten. Alles Romanhafte, Gefühlvolle ist dem Familienvater von drei Kindern ein Graus.
    "Ich wäre der letzte, der sich darum bemühte, die verstrichene Zeit wiederzufinden." Schreibt er als Seitenhieb auf seinen berühmten Zeitgenossen Marcel Proust: "Erinnerungen, die etwas wieder aufleben lassen, sind mir peinlich."

    Valérys mutige Grabrede auf Henri Bergson

    Dennoch stellen langjährige Liebschaften mit intellektuellen Frauen Valérys Gefühlshaushalt zwei Mal völlig auf den Kopf. Nach der Besetzung des Nordens von Frankreich durch die deutsche Wehrmacht 1940 zeigt er dann großen Mut - mit seiner Grabrede auf den jüdischen Philosophen Henri Bergson. Sie kostet ihn zwei Posten. Als Sekretär der Académie française und Direktor des Universitätszentrums von Nizza muss er abdanken.
    "Mir ist innerlich und äußerlich derart kalt.", schreibt Valéry in einem Brief. "Die Dummheit der Menschen tötet mich. Ich spüre zu deutlich, dass alles, was ich bewundert und gewollt habe, der Sinn, den ich dem Leben gegeben habe, dahin ist, unverständlich wird."
    Collage von zwei historischen Fotos: Paul Valéry, 1935 und André Gide, ca. 1930.
    Paul Valéry und André Gide - Eine Freundschaft voller Gegensätze
    Die beiden Schriftsteller Paul Valéry und André Gide waren jahrzehntelang miteinander befreundet, wussten aber zeitlebens nicht, worauf ihre gegenseitige Wertschätzung beruhte. Nur, dass ihre Zuneigung trug.
    Sein öffentlicher Einsatz für Frankreich beschert Paul Valéry 1945 ein Staatsbegräbnis – angeordnet von Charles de Gaulle. Letzte Ruhestätte wird der "Friedhof am Meer" - dem Paul Valéry schon Jahre zuvor ein lyrisches Denkmal gesetzt hat.
    "Gerechter Mittag überflammt es nun
    Das Meer, das Meer, ein immer neues Schenken!
    O, die Belohnung, nach dem langen Denken
    ein langes Hinschaun auf der Götter Ruhn"