Als Kandinsky 1895 eine Vorstellung von Wagners Oper "Lohengrin" besuchte, da war er noch Jurist in Moskau, war das für ihn ein Erweckungserlebnis. Denn er hörte die Klänge nicht nur, er sah sie auch. Sie riefen in ihm die Farben der Moskauer Abendstunde wach:
"Ich sah all meine Farben im Geiste, sie standen vor meinen Augen. Wilde, fast tolle Linien zeichneten sich vor mir. Ich traute mich nicht den Ausdruck zu gebrauchen, dass Wagner musikalisch meine Stunde gemalt hatte."
"Also, die Musik spielt tatsächlich eine zentrale Rolle für Kandinsky. Er hat das selber in seinen Rückblicken so beschrieben, dass die Ouvertüre von Lohengrin, die er noch in Moskau gehört hat, das sei für ihn die Initialzündung gewesen, alles hinter sich zu lassen," erklärt Annegret Hoberg, Kuratorin am Lenbachhaus in München.
Die Seele des Betrachters zum Klingen bringen
Am 4. Dezember 1866 wurde Wassily Kandinsky in Moskau geboren. Als Sohn einer wohlhabenden Teehändlerfamilie. Die Kunst war zunächst nur ein Hobby. Kandinsky studierte Jura, hängte seine Karriere aber im Alter von 30 Jahren an den Nagel, um in München Malerei zu studieren. Die dortige Kunstszene wurde damals von progressiven Künstlern aufgemischt; der Jugendstil befand sich auf dem Höhepunkt. In diesem Klima sollte Kandinsky seine gegenstandsfreie Malerei entwickeln und zum Wegbereiter der abstrakten Kunst werden. Sein Leitbild dafür war die Musik. Durch Farbe und Form wollte er die Seele des Betrachters zum Klingen bringen.
"Die Musik, die von der Natur äußerlich ganz emanzipiert ist, braucht nicht irgendwo äußere Formen für ihre Sprache zu leihen."
Kandinsky übte sich im Zeichnen, in der Malerei und im Holzschnitt. Seine ersten Werke waren noch gegenständlich-expressive Landschaftsbilder, Themen aus der russischen Märchen- und Sagenwelt. Er arbeitete zusammen mit Gabriele Münter, seiner Muse und Lebensgefährtin in der Münchener Zeit. In den Jahren ab 1908 begann Kandinskys wichtigste Schaffensperiode. Alles Erkennbare löste sich zunehmend auf. Das Motiv war nur noch Anstoß, nicht mehr Thema seiner Bilder.
"Kandinskys Abstraktion ist eigentlich eine vom Verschlüsseln und Verbergen von Inhalten. Also, es gibt gewisse Symbole, Bildgegenstände, etwa auch der Reiter, das Boot, russische Heilige, alles Mögliche, die in immer mehr verwischter, verschlüsselter Form in seinen Bildern vorkommen, auch in den abstrakten Bildern."
Ein wichtiger Weggefährte wurde Franz Marc, mit dem Kandinsky 1911 den Blauen Reiter gründete - eine lose Künstlergruppe, der auch der Komponist Arnold Schönberg angehörte. Ihnen ging es um die "innere Notwendigkeit". Der Künstler sollte nicht dem Naturvorbild nacheifern, sondern dem Impuls seiner inneren Stimme folgen.
Mehrfach wurde in der Kunstgeschichte gestritten, ob es wirklich Kandinsky war, der das erste rein abstrakte Bild geschaffen hatte. Sein sogenanntes erstes abstraktes Aquarell, von ihm auf 1910 datiert, ist wohl erst 1913 entstanden.
"Kandinsky", so Annegret Hoberg, "ist einer der großen Väter der Abstraktion. Mit ihm kam sozusagen das Streben in die Kunst, etwas Geistiges in der bildenden Kunst zum Ausdruck zu bringen, also eine spirituelle Dimension, die in irgendeiner Weise sichtbar werden soll. Das war auch ein Paradigmenwechsel in der Kunst, etwas, was das ganze 20. Jahrhundert geprägt hat."
"Analytisches Zeichnen": Kandinsky am Bauhaus
1922 folgte Kandinsky der Einladung von Walter Gropius, Lehrer am Bauhaus zu werden. Dort entwickelte sich die enge Freundschaft zu Paul Klee. Kandinsky unterrichtete "Abstrakte Formelemente" und "Analytisches Zeichnen". Seine Bilder aus dieser Zeit sind entsprechend kühler und geometrischer als die in den expressiven Jahren zuvor. Nachdem die Nationalsozialisten 1933 das Bauhaus geschlossen und auch Kandinskys Kunst als entartet diffamiert hatten, emigrierte er mit seiner Frau Nina nach Paris. Dort entstand bis zu seinem Tod im Dezember 1944 ein Spätwerk mit verspielten weicheren Formen.
Die große Anerkennung seiner Kunst hat Kandinsky nicht mehr erlebt. Nur geahnt, wie sein früherer Weggefährte, der Kunsthistoriker Will Grohmann, wusste:
"Er hat immer an die Zukunft seines Werkes geglaubt. Obwohl das lange gedauert hat. Aber keine Ablehnung hat ihn jemals irre machen können."