Die Erinnerung an einen lange zurückliegenden theologischen Skandal ist im Rom des Jahres 1870, beim Ersten Vatikanischen Konzil, offenbar noch immer lebendig, sagt der katholische Theologe Peter Neuner:
"Und vor allem gibt es Beispiele von Päpsten, die in Irrtum gefallen sind. Der Fall Honorius war der entscheidende."
Papst Honorius I. gehört zu den Päpsten, die als Beweis dafür herhalten müssen, dass sich auch ein Pontifex irren kann. Zweifellos, dieser Mann des 7. Jahrhunderts hat seine Verdienste: Er hat das Fest der Kreuzerhöhung eingeführt und die Mission in der angelsächsischen Kirche gefördert. Und doch munkeln die Zeitgenossen immer wieder, dass er, nun ja, seinem hohen Amt auf dem Stuhl Petri nicht gewachsen sei. Als Beispiel dafür möge etwa seine Rolle im Streit um den Monophysitismus gelten.
Dabei ging es um die Lehre, dass Christus nur eine, nämlich göttliche Natur habe. Das allerdings widersprach nun der bis dahin gültigen theologischen Position von der göttlichen und der menschlichen Doppelnatur Christi.
In dieser hitzigen Auseinandersetzung hatte Papst Honorius I. nun so unglücklich agiert, dass man ihm "Irrtümer" unterstellt hatte. Und als Gipfel aller Peinlichkeit hatte ihn dann auch noch das Dritte Konzil von Konstantinopel im Jahr 680 als Häretiker verurteilt.
"Der Papst ist unfehlbar als 'persona publica'"
Nun könnte man vermuten, der Honoriusstreit aus dem 7. Jahrhundert sei irgendwann ad acta gelegt worden und in Vergessenheit geraten. Doch weit gefehlt: Rund 1190 Jahre später sorgt er beim Ersten Vatikanischen Konzil für gereizte Wortgefechte und zornbebende Kardinäle. Denn dort geht es um genau diese Frage - ob der Stellvertreter Christi auf Erden in Sachen des Glaubens und der Lehre Fehlurteile fällen, irren kann.
Es scheint wie ein böses Omen: An diesem 18. Juli 1870 tobt ein heftiges Gewitter und taucht die Ewige Stadt in nachtschwarze Dunkelheit. Der Donner kracht, Blitze umzucken den Petersdom. Auch im Innern ist vom Licht des Glaubens wenig zu spüren. Dort herrscht, wie der Dichter Heinrich Heine das einmal anlässlich eines anderen Theologenstreits formulierte: "die Geistlichkeit im Dunkeln durch die Verdunkelung des Geistes…"
Denn in der Konzils-Aula des Petersdoms wird gerade ein für Katholiken künftig unumstößlicher Glaubenssatz feierlich verkündet. Bis in unsere Tage wird er zu den umstrittensten Beschlüssen der Kirchengeschichte gehören: das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit.
"Der Papst ist nicht unfehlbar als Privatperson, sondern als 'persona publica'. Nach diesem Dogma ist der Papst unfehlbar, wenn er 'ex cathedra', das heißt, in Ausübung seines obersten Lehr- und Hirtenamtes eine Wahrheit des Glaubens und der Sitten für die ganze Kirche verkündet."
An diesem Dogma, so der Kardinal Walter Kasper, scheiden sich die Geister:
"Wie kaum ein anderes, steht dieses Dogma im Widerstreit der Meinungen. Es bildet bis heute eine kaum überwindbare Schwierigkeit. Wir müssen das Dogma des Ersten Vatikanischen Konzils zunächst aus seinem geschichtlichen Zusammenhang heraus zu verstehen suchen. Dogmen fallen ja nicht vom Himmel, sondern verstehen sich als Antwort des Glaubens auf eine geschichtliche Situation."
Zurück zum Absolutismus
Gekennzeichnet ist diese geschichtliche Situation von den für die Kirche noch immer traumatischen Nachwehen der französischen Revolution, aber auch von der italienischen Einigungsbewegung, die eine italienische Nation ohne den Kirchenstaat anstrebt und, ganz allgemein, von den Säkularisierungstendenzen der modernen Gesellschaft.
So in Bedrängnis geraten, nimmt die Kirche Zuflucht zu einem Gegenangriff auf die Moderne. Gleichzeitig, so der Kölner Neuzeithistoriker Rudolf Lill, propagiert sie eine Aufwertung von Gehorsam, Autorität und Tradition:
"Die Entwicklung vom Ersten Vatikanischen Konzil von Pius IX. bis hin zu Pius XII., das war eine Entwicklung, die der europäischen politischen und sozialen Entwicklung ganz entgegengesetzt war: Die gesellschaftliche Entwicklung ging hin zur Demokratie und die kirchliche Entwicklung ging zurück zum Absolutismus, um sich gegen die Moderne klar abgrenzen zu können."
Streit statt Jubel
Nachdem Papst Pius IX. 1869 das Erste Vatikanische Konzil einberufen hatte, machen unter den rund 770 Konzilsvätern aus aller Welt schon früh Gerüchte die Runde; es heißt, er arbeite darauf hin, die päpstliche Unfehlbarkeit festschreiben zu lassen. Notfalls durch Akklamation, also ohne formale Abstimmung. Vorgestellt hatte er sich das wohl so, sagt Peter Neuner:
"Nämlich der Papst in der Mitte, umgeben von den Bischöfen, die ihm zujubeln und die seine Entscheidung nun festhalten. Also, nicht demokratische Strukturen oder auf Demokratie hinweisende synodale Strukturen, sondern die Autorität eines Einzelnen. Das war sein Bild vom Konzil. Und dann kam es auch - sicher in gezielter Weise - zu dem Vorschlag, in diesem Konzil, das ja zunächst überhaupt keine Tagesordnung und kein Thema hatte – in diesem Konzil sollte die Unfehlbarkeit des Papstes am besten 'per acclamationem' verkündet werden. Also, man hat sich das so gedacht: Der Papst wird hereingetragen auf seinem Sitz, und die Bischöfe springen auf und jubeln ihm zu als dem unfehlbaren Papst. Das ist so nicht gekommen."
Denn die Unfehlbarkeitsdebatte sorgt für Zwist und spaltet die Teilnehmer in zwei Lager. Sie erscheint vielen Kritikern als theologischer Versuch, den päpstlichen Machtanspruch über die Turbulenzen der Zeit hinwegzuretten und zu bewahren. Die Unruhe unter den Konzilsvätern wächst, sagt Peter Neuner:
"Um die Unfehlbarkeit wurde massiv gestritten, sehr kontrovers argumentiert und man muss sagen, ungefähr ein Viertel der Bischöfe, vor allem aus Frankreich und insbesondere aus Deutschland waren gegen diese Erklärung der Unfehlbarkeit."
"Der deutsche Geist hat alles verdorben"
Einer der schärfsten Kritiker ist der deutsche Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger:
"Döllinger stellt als Historiker fest, diese Unfehlbarkeit ist nicht die Lehre der frühen Kirche. Sie ist nicht in der Heiligen Schrift begründet, sie ist nicht praktiziert in den ersten christlichen Jahrhunderten. Er war überzeugt, dieses Dogma ist nicht möglich. Die gebildeten Kreise, vor allem die Historiker werden es einfach nicht akzeptieren. Es kam zum offenen Streit. Es kam sehr bald dazu, dass diese Bewegung mit Döllinger sich dann als eigene kirchliche Gemeinschaft organisierte: als die altkatholische Kirche."
Der Streit geht so weit, dass es zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen einem wutschnaubenden Papst und einem aufsässigen Kardinal kommt. Pius IX. und der Kardinal Filippo Maria Guidi, Erzbischof von Florenz, brüllen sich an - während draußen das Gewitter tobt und eine Fensterscheibe in der Konzils-Aula klirrend zu Bruch geht.
Die Dogmen-Gegner werden von der päpstlichen Kamarilla regelrecht "gemobbt". Man setzt sie unter psychologischen und theologischen Druck; sie werden bespitzelt, überwacht und von wichtigen Beratungen ausgeschlossen. Im Umgang mit ihren Kontrahenten kämpfen die Unfehlbarkeitsanhänger durchaus mit harten Bandagen.
So wütet einer der Bischöfe mit Blick auf den Gegner: "Ein neuer Luther! Werft ihn raus!"
Und damit dürfte er durchaus die Meinung des Papstes getroffen haben, denn der macht deutlich, was er von den widerborstigen Oberhirten aus dem Land der Reformation hält. Er ist sich sicher: "Der deutsche Geist hat alles verdorben."
"Das Dogma wurde durchgedrückt"
Und so stimmt das Konzil in seiner vierten öffentlichen Sitzung über die Vorlage zur Unfehlbarkeit ab. Allerdings: Entnervt von dem Gezänk, sind viele Teilnehmer schon vorher abgereist, sodass sich nur noch 535 Stimmberechtigte in der Konzils-Aula einfinden. Von ihnen stimmen nur zwei Bischöfe mit Nein.
Peter Neuner: "Die Bischöfe, die gegen das Dogma der Unfehlbarkeit argumentiert hatten, haben sich fast alle unterworfen, haben diese Unterwerfung dann auch von ihren Diözesanen verlangt."
Walter Kasper: "Das Dogma wurde nicht ausdiskutiert. Es war durch scharfmacherische Tendenzen hochgespielt und teilweise gewaltsam gegen begründete Bedenken durchgedrückt worden."
Der Schweizer Theologe und Historiker August Bernhard Hasler urteilt in den 1970er-Jahren, es sei "die Ideologisierung einer Ideologie, deren typisches Kennzeichen es ist, zwar kein Fundament in der Realität zu besitzen, jedoch mit dem Totalitätsanspruch auf Wahrheit aufzutreten".
Das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit wirft lange Schatten. Sie reichen vom Kulturkampf im Kaiserreich bis ins 20. Jahrhundert.